Meine Tochter hatte Anorexie – das hat uns geholfen

Anorexie

Foto: Pixabay

Ihr Lieben, wenn Kinder ernsthaft krank werden, brauchen nicht nur sie Hilfe und Unterstützung, sondern es ist auch sehr sinnvoll, wenn sich Eltern Hilfe holen. Gerade wenn es um Krankheiten geht, vor denen mal völlig hilflos steht, die vielleicht auch Scham- und Schuldgefühle auslösen. Verenas Tochter war an Anorexie erkrankt wie sie selbst und ihre Tochter Hilfe gefunden haben, erzählt sie hier im Interview.

Liebe Verena, deine Tochter war an Anorexie erkrankt. Wann war das und wie schnell habt ihr das gemerkt?

Das war im Sommer 2021, sie war gerade 13 geworden. Es war aber schon seit einer Weile klar, dass etwas nicht stimmt: Meine Großmutter war gestorben, die für meine Tochter und mich ein sehr wichtiger Mensch war. Wir haben viele Jahre zu dritt in einem Haus gelebt. Die Pandemie fanden meine Tochter und ich erst ganz toll – es war für uns beide erholsam und spannend, uns die Arbeit beziehungsweise den Schulkram selbst über den Tag hinweg einzuteilen. Ich war richtig stolz, wie gut sie das machte. 

Aber als dann in der Schule der „Wechselunterricht“ begann, kam meine Tochter ausgerechnet mit den Mädchen in eine Gruppe, mit denen sie sich nicht gut verstand. Manche Eltern bestanden darauf, dass sich höchstens fünf Mädchen treffen dürften, und da wir etwas außerhalb leben, war sie dann oft außen vor. Ihre beste Freundin hatte eine schwere Depression entwickelt, da war kein Kontakt mehr. Meine Tochter war also sehr einsam.

Ich arbeitete viel, weil mein Arbeitgeber insolvent gegangen war und ich mich selbständig machte. Aus Sicherheit wollte ich keine Aufträge ablehnen, das musste ich erst lernen. Immerhin habe ich so Geld gespart, was später mit der Krankheit Vieles erleichterte.  

Jedenfalls fing sie dann an, immer öfter für uns beide zu kochen und ging regelmäßig laufen, was ich als Zeichen der Selbständigkeit sah. Da sie anfangs leicht übergewichtig war, habe ich lang nicht an eine Essstörung gedacht, obwohl sie abgenommen hatte, sich stark zurückzog und selbst im Sommer dicke Pullis trug. Erst, als ich im Urlaub unter ihrem Bett in der Ferienwohnung unsere Badezimmerwaage entdeckte, dämmerte es mir. 

Wie wurde sie behandelt und wie geht es ihr heute?

Es war während der Pandemie sehr schwer, einen ambulanten Therapieplatz zu finden. Als wir den hatten, dauerte es tatsächlich drei Monate, bis die Diagnose stand. Dann war die Krankheit für eine ambulante Therapie zu weit fortgeschritten und ich setzte sie direkt bei allen Kliniken bundesweit auf die Warteliste, die eine so junge Patientin mit noch nicht lebensbedrohlichem BMI und zunächst abgelehntem Reha-Antrag überhaupt aufnehmen konnten. Das waren genau zwei. 

Wieder drei Monaten später kam sie in eine freundliche, kleine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das fühlte sich sehr gut an. Ich dachte, dass ich nun aufatmen könne und für die Wochenenden zu Hause, die „Belastungserprobung“ hießen, Anleitungen und zum Beispiel einen Essensplan bekommen würde.

Das war aber nicht so, oder?

Nein! Es sind Probleme entstanden: zum Beispiel gab es Rechenfehler, so dass ihre Gewichtsziele von Anfang an unrealistisch waren. Der Arzt, der mit uns das Online-Vorstellungsgespräch machte, hatte vergessen, mir das Anorexie-Konzept der Klinik zu schicken. So konnte ich die Behandlung nicht nachvollziehen, rätselte und rief immer wieder an, um nachzufragen, ließ mich aber auch abwimmeln, weil ich die Pädagogen in der Klinik nicht nerven wollte. Nach kurzer Zeit bat ich um Akteneinsicht, worauf niemand reagierte. Ich wollte einfach etwas schriftlich haben, weil es mir zu der Zeit schwerfiel, klar zu denken. 

Als die Kliniktherapeutin plötzlich von „Mutter-Kind-Symbiose“ sprach, dachte ich, sie sei aus dem Jahrhundert gefallen und nahm vorsichtshalber keinen Kontakt mehr auf. Meine Tochter begann, zwischen uns Erwachsenen zu vermitteln und jeder hörte, was er hören wollte. Irgendwann hatte sich meine Tochter mit der Therapeutin zerstritten, wollte nach Hause und sagte: „Die lästern in der Klinik über dich, Mama.“ Ich sprach das an, sie wurde entlassen – und mit dem Bericht und schließlich auch durch Akteneinsicht erfuhr ich, dass in der Klinik eine Theorie über uns als Familie entstanden war, die ich in den Gesprächen dort nicht verstanden habe, weil sie schlicht keinen Sinn ergab. 

Das war sicher belastend….

Meine Tochter hat den Klinikaufenthalt schnell abgehakt, spricht aber heute noch davon. Das zeigt, dass dort Vieles auch gut war. Für mich war das Abschließen schwierig. Ich fand die Art, wie über mich in der Patientenakte geschrieben wurde, nicht nur respektlos, sondern auch sehr spekulativ und habe darauf beharrt, nochmal einen moderierten Austausch zu bekommen. Ich weiß, dass die Klinik sich dann intensiv mit meinem Feedback auseinandersetzte. So konnte ich wenigstens nachträglich etwas tun, damit andere Familien weniger schwierige Situationen erleben. 

Gottseitdank fanden wir nach der Klinik schnell eine ambulante Therapeutin, die eng mit mir zusammenarbeitet. Meine Tochter ist immer noch schlank und ich werde sicher noch lange aufmerksam sein. Aber es geht ihr gut und wir fühlen uns beide sicher. 

Versuch mal zu erklären, was diese Krankheit mit dem Rest der Familie macht. 

Ich bin davon abgekommen, zu glauben, dass ganz speziell eine Anorexie bestimmte Dinge in einer Familie auslösen muss. Der Grund ist, dass ich viel Verwirrung erlebt habe mit Annahmen, eine Familie, in der es eine Anorexie gibt, sei „so oder so“. 

Eine lebensbedrohliche und erstmal unerklärliche Krankheit kann verwirren und Angst machen. Das ist nicht anders, wenn ein Kind suizidgefährdet ist oder jemand eine Psychose entwickelt. Zuerst ist es ein Riesenschock und man beginnt, Information zu sammeln. Als die Diagnose endlich ausgesprochen war, lag ich nachts wach und prüfte, ob meine Tochter noch atmete. Dann googelte ich seltsame Dinge wie „Wie tröstet man jemanden mit Anorexie“?

Als der Ukraine-Krieg begann, fand ich mich plötzlich in absurden Plänen wieder, wohin ich mit meinem kranken Kind fliehen würde, wenn ein dritter Weltkrieg ausbräche. Dabei bin ich eigentlich ein optimistischer Mensch. Ich habe zu der Zeit auch gemerkt, dass ich sehr lang brauchte, um Gefühle wahrzunehmen, Informationen zu verarbeiten oder Entscheidungen zu treffen. 

So eine Krankheit bringt also viel in Bewegung…

Ja, meine Familie hat mich oft überrascht. Als es mir anfangs schlecht ging, fuhr ich mit meiner Tochter zu meiner Mutter, legte mich aufs Sofa und wollte einfach nur schlafen. Ich dachte, dass sie jetzt dem Kind eine ordentliche Portion Essen hinstellen würde. Sie schöpfte ihr aber nur ganz vorsichtig eine Mini-Portion und wirkte sehr unsicher. Umgekehrt wurde mein kleiner Bruder plötzlich erwachsen und kam uns oft besuchen, was mir geholfen hat. 

Mit einer Anorexie umzugehen, erfordert enorm viel Selbstreflexion und Disziplin. Im Lauf der Zeit ging es darum, zu erkennen, was mich selbst triggert. Ich bin zum Beispiel eher antiautoritär erzogen worden und muss jetzt bei meiner Tochter viel mehr regeln und vorgeben, als ich es als „normal“ empfinde. Besonders schwer fiel mir das, wenn meine Tochter Mahlzeiten mit Freunden verbringen wollte und damit argumentierte, dass sie ja schließlich soziale Kontakte brauche. Oder wenn andere Menschen es komisch fanden, dass ich noch sehr, sehr lange fast alle Mahlzeiten begleitete. Es dauerte, bis ich darüber einfach die Schultern zucken konnte. 

Wo hast du damals Unterstützung und Kraft gefunden?

Vor der Klinik in einer Selbsthilfegruppe für Eltern beim ANAD e.V., die in der Pandemie online gegangen war. Das war ein Glück, denn so konnte ich aus einem anderen Bundesland teilnehmen. Natürlich war nicht alles, was da gesagt oder geraten wurde, für uns richtig. Man muss die Dinge immer für sich selbst einordnen und entscheiden. Aber es war eine große Erleichterung, irgendwo „Zielgruppe“ zu sein und gab mir auch ein bisschen Struktur, weil ich zu der Zeit kaum noch arbeitete, sondern mich nur noch von „möglicher Hilfe“ zu „möglicher Hilfe“ hangelte.

Eine Therapeutin, die ich für meine Tochter angefragt hatte, war eigentlich Erwachsenen-Therapeutin und nahm mich auf. Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als ich sagte, dass die Anorexie mir Angst mache – und sie sich nicht wunderte, sondern mir half, ruhig zu werden. 

Als der Klinikaufenthalt meiner Tochter schwierig wurde, kam ich ins Netzwerk Magersuchteltern. Da habe ich eine unglaubliche Power erlebt. Zum ersten Mal bekam ich eine Orientierung, wie hoch der Energiebedarf in der Wiederernährung sein kann, welche Rezepte sich eignen und wie man „gesunde“ und „kranke“ Gedanken des Kindes auseinanderhält. Als Angehörige bekommt man oft den Tipp, etwas für sich selbst zu tun. Damit ist sowas wie Yoga gemeint. Selbstfürsorge kann aber auch heißen, sich gut zu informieren und auch kritisch nachzufragen, wenn sich was komisch anfühlt.  

Du berätst heute ebenfalls Familien. In welchen Situationen kommen diese Eltern zu dir und was brauchen sie am dringendsten? 

Die Eltern sind manchmal schon über 70 und ihre Kinder haben wieder Kinder, um die es dann auch geht. Da ist erstmal die Orientierung zu Beginn einer Krankheit, bei der man alle möglichen Gefühle und Gedanken sortieren muss, die in einer Familie da sein können. Wenn ein Vater seinem Sohn in einer depressiven Krise Tipps gibt, wie er sein LinkedIn-Profil pflegen soll, damit er endlich einen Job findet, kann man sich an den Kopf greifen – oder sehen, dass es erstmal ein Versuch ist, klarzukommen. Und dem Vater zuhören, damit er seine Gedanken neu sortieren kann.  

Dann gibt es Menschen, deren Kind, Bruder, Mutter oder Kollege schon länger krank ist, vielleicht einen Rückfall hatte oder seine Medikamente nicht nehmen will, und die sich fragen, wer dafür eigentlich „zuständig“ ist oder wie sie das selbst besser auffangen können.

Manche erlebe ich als ungehalten oder irritiert, weil sie kaum in die Behandlung einbezogen sind. Ich erinnere mich an eine Mutter, die sich als Helikopter abgestempelt fühlte mit ihrer Wahrnehmung, dass mit der Medikation ihrer Tochter etwas nicht stimme. Oder dass Menschen die Augen verdrehten, weil sie im Gespräch in der Klinik in Tränen ausbrach. 

Und es gibt Menschen, die wirklich schwierige Dinge erleben, also dass Außenstehende bei ihnen psychische Erkrankungen „ferndiagnostizieren“, Behandlungsverträge aufgelöst werden oder nicht zustande kommen, weil man sich auf ein Medikament oder eine x-te Diagnostik nicht vorbehaltlos einlassen möchte. Beides kann ja viel durcheinanderwirbeln. Je absurder die Geschichten, desto eher glaube ich den Menschen und sage: „So wie du das gerade schilderst, ist es nicht okay.“ 

Mein Rat ist oft, die eigene Belastung anzusprechen, sanft zu beharren, wenn man Information sucht oder einbezogen werden möchte, Gespräche vorher zu strukturieren oder vielleicht jemanden bitten, dabei zu helfen, weil man selbst den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht und ganz, ganz viel erzählt, was die Behandelnden wieder verwirren kann. 

Wie profitieren kranke Kinder von starken Eltern?

Natürlich sehr! Ich mache mit meiner Tochter inzwischen Witze darüber, wer von uns beiden eigentlich schlimmer dran war. Das ist natürlich sie – aber ihre Therapeutin hat mir sehr geholfen, weil sie als zweite Erwachsene da war und immer wieder sagte: „Wir setzen Ihre Entscheidungen jetzt um und dabei bleibt es auch!“ Das hilft meiner Tochter, auch wenn sie das als Jugendliche natürlich anders sieht. 

Ich habe in der Selbsthilfe und bei verschiedenen Fachleuten erlebt, das sie Dinge oft völlig unterschiedlich sahen. Zum Beispiel wollten manche Eltern bei einer Anorexie auf keinen Fall einen Essensplan, damit sich das Kind nicht daran aufhängt: „Da steht aber nur 100 Gramm Apfel, mehr esse ich nicht.“ Für mich war es aber hilfreich, mit Kalorien zu rechnen, weil ich unglaublich schlecht darin bin, Mengen zu schätzen. Der Essensplan gab mir Sicherheit und ich glaube, dass das ein wichtiger Schlüssel war. 

Was würdest du Eltern raten, die gerade in einer ähnlichen Situation sind wie du damals?

In sich selbst vertrauen. Einer der besten Sätze, den ich von anderen Eltern hörte, war: „Du hast dein Kind bis hierher großgezogen und das schaffst du auch weiter.“ Es ist normal, dass man in einer ungewohnten Situation erstmal hören will: „Du musst jetzt dies oder das tun.“ Oder dass man das Problem an die Profis abgeben möchte. Aber die kennen ja nur einen sehr kleinen Ausschnitt eures Lebens. 

Ich würde auch raten, schneller und hartnäckiger anzusprechen, wenn etwas nicht stimmt – auch, wenn man Angst hat, dass es schiefgeht. Und bei den eigenen Gedankenmodellen bleiben. Es macht schon einen Unterschied, wenn man „Symbiose“ durch „Bindung“ oder „Feingefühl“ ersetzt. 

Sehr hilfreich finde ich auch, sich von „Peers“ beraten zu lassen, also zum Beispiel von Menschen, die mal in der Situation des eigenen Kindes waren. Und insgesamt den Trialog zu suchen, also den Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten. Ich empfehle hier wirklich sehr folgende Seiten: www.bapk.de, www.obeon.de und www.anad.de.

4206667ae4b24e798bb3be84d9ebd792

Du magst vielleicht auch

3 comments

  1. Ach so sorry, du schreibst ja Jugendhilfeeinrichtung, nicht Klinik. Hm, vielleicht gibt man da als Eltern eher ab, als Verantwortung zu übernehmen?

  2. Herzlichen Dank für den Einblick in die Erfahrungen von dir als Mutter. Für mich speziell tatsächlich von großem Interesse, da ich als Ökotrophologin ernährungstherapeutisch in einer therapeutisch stationären Jugendhilfeeinrichtung mit von Essstörungen betroffenen Jugendlichen arbeite. Bisher habe ich leider die Erfahrung gemacht, dass sich wenig bis gar keine Eltern für gemeinsame Ernährungstherapie-Termine interessieren (obwohl unsere Strukturen das ermöglichen würden), wodurch mir die Seite betroffener Eltern schlichtweg fehlt. Du bestärkst mich darin, weiterhin den Eltern das Angebot für eine Zusammenarbeit zu machen. Vielleicht treffe ich ja irgendwann auf eine Familie, die Interesse daran hat.
    Übrigens: wir verzeichnen eine stark angestiegene Anzahl an Platzanfragen von Anorexie Betroffenen seit der Corona-Pandemie.
    Euch wünsche ich alles Gute für eure Wege.

    1. Bea, ich kann mir vorstellen, dass dein Handeln mehr Wirkung hat, als du denkst. Manchmal denkt man ja erst Monate später zurück an das, was die nette Ernährungsberaterin gesagt hat, und merkt, dass es hilfreich ist. Vielleicht sind Klinikaufenthalte als akute, krisenhafte Erfahrungen nicht der richtige Zeitpunkt, aber die Eltern denken später dran zurück und kommen so auf die Idee, zu recherchieren. Insgesamt macht Ernährungsberatung für Eltern vermutlich aber nur Sinn, wenn im
      Konzept der Klinik Familien als Ressource und Befähiger gesehen werden? Ich finde, du solltest weitermachen! Ggf. kannst du Materialien für nach dem Klinikaufenthalt mitgeben. Ein wichtiges Argument für Eltern ist: Ihr könnt viel tun, die Dinge in ein Stückweit die Hand nehmen und je mehr ihr wisst, desto besser könnt ihr zusammen mit dem Kind die Krankheit ausknocken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert