Ihr Lieben, was haben meine eigenen Ängste mit den Ängsten meiner Kinder zu tun und wie schaffe ich es, sie nicht zu übertragen? Und was, wenn wir selbst kaum größere Angst-Erfahrungen haben, das Kind aber plötzlich nicht mehr zur Schule will oder zur Kita, zur Übernachtungsparty oder auf Klassenfahrt? Wie begleite ich mein Kind gut zur Blutabnahme, wenn ich selbst dabei umkippen könnte? Wir haben Familienexpertin Inke Hummel dazu interviewt, die grad drei (!) Bücher zum Thema geschrieben hat…
Liebe Inke, du hast dich für deine letzten drei Bücher mit dem Thema Angst beschäftigt. Gibt es bei dir auch eine, es gibt ja viele Menschen, die Angst vor Spinnen haben oder Platzangst…
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es komplett angstfreie Menschen gibt. Unterschiedlich ist nur, wie gut wir Ängste händeln könne und wie viele verschiedene uns beeinflussen.
Meine persönlichen Ängste haben sehr lange gebraucht, bis ich sie ganz gut im Griff hatte, weil ich in meiner Kindheit sehr verschlossen war und meinen Eltern deshalb vermutlich gar nicht bewusst war, dass ich Unterstützung gebraucht hätte. Heute würde ich sagen, dass meine größte Angst eigentlich eher nur noch eine Sorge ist, und zwar die ganz natürlich um die eigenen Kinder.
Nun hast du ein Buch für Eltern geschrieben, die nicht „nur“ eine Spinnenphobie haben, sondern vielleicht tiefschürfendere Ängste. Um was für Ängste geht es da zum Beispiel?
In „Deine Angst, meine Angst*“ geht es um beides: zum einen das normale Erlernen eines sinnvollen Umgangs mit Ängsten und zum anderen die Unterstützung, wenn die Ängste schon sehr tief liegen und viel zu viel Raum im Leben eines Kindes einnehmen. Die Rolle der Eltern ist dabei sehr relevant, denn sie sind Vorbild und werden als Co-Regulatoren benötigt.
In meinen Beratungen habe ich in den letzten Jahren vermehrt gesehen, dass Elternängste manchmal groß sind und die Begleitung eines sehr ängstlichen Kindes dann natürlich erschweren. Da ist vieles dabei: Angst vorm Loslassen, Angst Fehler zu machen, Angst vor Konflikten (was manchmal zu überbehütendem Erziehungsverhalten führen kann), Angst um die Gesundheit, aber genauso auch Angst vor bestimmten Tieren oder Höhe, also eher Klassiker.
Das Buch soll dabei helfen, die eigenen Ängste nicht aufs Kind zu übertragen. Wenn nun ein Kind auf dem Weg zur Grundschule verunglückt ist – als Beispiel – und ich darum Schwierigkeiten habe, mein Kind weiter allein zur Schule gehen zu lassen: Wie komme ich das raus?
Manchmal sind Ängste sehr berechtigt, wie in diesem Beispiel. Dann ist eine Veränderung natürlich schwieriger als bei sehr irrealen Ängsten ohne echten Grund. Dennoch kann man auch daran gut arbeiten. In meinem Buch gibt es zusätzlich zum Wissen rund um Angst und zu den einzelnen Ängsten einen 6-Schritte-Plan, der Eltern und Kinder mitnimmt, um Ängste kleiner werden zu lassen.
Basis ist immer der Gedanke, raus aus dem Ohnmachtsgefühl und rein in eine Aktivität zu kommen. Also kein Ertragen und Leiden unter der Angst auf dem Schulweg, sondern ein Aktivwerden, Absichern und vor allem Starkmachen des Kindes, damit es nach und nach dahinkommen kann, den Schulweg sicher zu schaffen – und das Elternteil dahinkommen kann, mehr loszulassen.
Wie können wir als Eltern helfen, wenn die 11-Jährige jetzt wieder Angst vor Übernachtungen hat… Auch im Hinblick auf die kommende Klassenreise?
Das ist auch gar kein ganz seltenes Thema. In Phasen von Unsicherheiten wie Umzug, Schulwechsel, Geschwistergeburt oder auch Beginn der Pubertät, wie es hier der Fall sein könnte, können Ängste zunehmen oder auch erst entstehen.
Wichtig ist dann hier wieder das Herausfinden aus den Ohnmachtsgefühlen. Die 11-Jährige muss die Angst in ihrem Körper verstehen, einschätzen lernen, welche Angstauslöser tatsächlich wahrscheinlich und welche eher unwahrscheinlich sind, und schließlich Ideen entwickeln, wie sie in Angstmomenten für ihren Körper und den vielleicht leicht durchdrehenden Kopf sorgen kann. Das geht wieder mit meinem 6-Punkte-Plan.
Manche Ängste lassen sich ja auch nicht erklären, eine Angst vor Spritzen zum Beispiel. Wenn ich dafür keine logische Erklärung habe, wie kann ich dann mein Kind z.B. gut zur nächsten Blutabnahme begleiten?
Oh, das ist ganz oft so. Eltern suchen natürlich immer DEN einen Auslöser, DIE Situation, seit der die Angst da ist. Aber das gibt es nicht immer. Manchmal lässt sich die Angst ganz anders erklären, und oftmals kommt man der Entstehung auch gar nicht richtig auf die Spur, denn so ist das mit Gefühlen. Wir selbst können ja auch nicht immer sagen, woher plötzlich eine Traurigkeit oder eine Wut kommt.
Hinsichtlich der Blutabnahme finde ich wichtig, dass wir Eltern klar sind: Wenn etwas sein muss, wie hier vielleicht aus gesundheitlichen Gründen, dürfen wir es nicht in Frage stellen lassen. Unsere Aufgabe ist dann eher ehrliches Beschreiben, was passieren wird, und Zutrauen auszusprechen: „Du kannst das!“ Eine solche Klarheit würden wir ja auch an den Tag legen, wenn unser Kind auf einer großen Verkehrsstraße würde spielen wollen. Dazu würden wir so klar „Nein“ sagen, wie zur Blutabnahme „Ja“. Das schadet der Eltern-Kind-Beziehung nicht.
Das klingt gar nicht so schwer…
Wichtig ist hier vielleicht noch folgender Gedanke, den ich aus der Arbeit mit Kinderärzten und Kinderärztinnen mitgenommen habe: Für das Kind ist ein zugewandter, kurzer Prozess besser, als ein langer, der immer wieder Schleifen dreht und die Angst über lange Zeit aufrechterhält. Also lieber zehn liebevolle, aber klare Minuten als zwei Stunden mit ständigen Angeboten und eigenem Zögern.
Auf der anderen Seite sollte es immer darum gehen: „Was brauchst du dafür?“ Soll ein Kuscheltier
mit? Übt man beruhigende Atmung oder Aufmerksamkeitslenkung weg von der Einstichstelle? Hilft
Singen oder das Festhalten von Mamas Schal? Oder hilft vielleicht auch die Aussicht darauf, wie stark
das Kind sich danach vielleicht fühlen wird und dass man im Anschluss die beste Freundin auf dem
tollen Spielplatz trifft?
Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, mit der eigenen Angst umzugehen. Meine Mutter etwa hat viele Schicksalsschläge erlebt in ihrer Kindheit, sie hätte mich und meinen Bruder in Angst großziehen könne, stattdessen handelte sie nach dem Motto: Jeder Tag möge genutzt werden. Ich hab ja eh nicht in der Hand, was passiert, also looos, leeeebt. Nimmst du diese beiden Extreme auch in deinen Beratungen wahr?
Ja, in den Beratungen sehe ich alle Abstufungen, das würde ich schon sagen. Und es ist wichtig, niemanden dafür zu verurteilen. Jeder hat seine Geschichte und seine Erfahrungen und jeder hat eine andere Persönlichkeit, mehr oder weniger Resilienz und Vertrauen ins Leben. Mir ist wichtig, im Hier und Jetzt zu arbeiten und zu schauen, was von allen Familienmitgliedern nach vorne raus gebraucht wird.
Zurück zu Kindern. Was, wenn mein Kind eine Schulangst entwickelt? Wo kommt die her, wie kann damit umgegangen werden?
Das begleite ich inzwischen wirklich oft und höre auch von Schulen, dass das Thema häufiger vorkommt. Die Ursachen können ganz unterschiedliche sein: Druck, Stress, Mobbing, Unsicherheiten, die gar nichts mit der Schule zu tun haben, sondern vielleicht mit dem Elternhaus oder eigenen Entwicklungsschritten, und und und.
Besonders nach Corona und dem vielen Hin und Her in dieser Zeit gab es etliche Kinder, die es aus Angst heraus sehr schwerfanden, wieder in einen geregelten Alltag weg von zu Hause (und möglicherweise weg von Eltern, die im Homeoffice sind) zu leben. Gerade die Kinder, die in dieser Zeit eingeschult worden sind und sowas wie Verlässlichkeit gar nicht kannten, hatten damit große Probleme.
Und bekommen sie Unterstützung?
In den Beratungen erlebe ich leider immer wieder Eltern, die damit erst einmal allein gelassen werden: „Sehen sie mal zu, dass Ihr Kind wieder herkommt!“ Da mache ich immer sehr deutlich, dass wir ja eine Schulpflicht haben und damit auch die andere Seite Verantwortung hat. Zum anderen lege ich Wert auf den Gedanken, dass unsere Kinder mindestens ein Jahrzehnt zur Schule gehen sollen. Das heißt, sie brauchen keinen Druck, um holterdipolter wieder im Klassenzimmer zu sitzen, sondern echte Unterstützung, die sie sicher macht und ihnen nicht schon früh die Lust am Lernen nimmt.
In meinem Buch „Miteinander durch die Grundschulzeit“ gibt es auch viel Input dazu. Ich bin ein Fan von großen runden Tischen mit Beteiligung verschiedener Parteien wie schulpsychologischem Dienst, manchmal auch Jugendamt oder Ergotherapie des Kindes, um gemeinsam zu schauen, welche kleinen Schritte machbar und notwendig sind.
Ich selbst erinnere mich, dass ich abends, wenn ich allein im Bett war, immer ein Lichtlein brauchte, sonst konnte ich nicht schlafen. Sind solche Ängste „normal“? Und ab wann sind sie das nicht mehr, ab wann sollten wir uns Hilfe holen?
Ja, Angst ist erst einmal ganz normal und ja auch lebenssichernd. Wenn wir uns ein Kind ganz ohne Ängste vorstellen, wie man es in manchen Situationen ja auch momentweise erlebt, ist das ziemlich gefährlich. Kinder haben noch nicht die Erfahrung gemacht, dass beängstigende Situationen sich oft leicht auflösen und zum Beispiel selten tatsächlich etwas Böses in der Dunkelheit wartet. Daher brauchen sie Entwicklungshilfe, Besprechen und Co-Regulation.
Vermehrte Unterstützung ist notwendig, wenn ein Kind die Angst nicht mehr als sichernde Begleiterin im Leben hat, sondern als Bestimmerin, die ihm sagt: „Das machst du nicht, auch wenn du es gern tun würdest!“ Dann können wir zu Hause einiges tun, zum Beispiel mit Hilfe meiner Bücher (gerade auch die Geschichte von Lasse in „Ups, ich habe Angst*“ unterstützt den Austausch mit dem Kind sehr – geeignet für etwa 4 bis 10 Jahre). Wird die Angst trotz dieser Hilfe nach 3 bis 6 Monaten nicht besser, sondern vielleicht sogar noch stärker, gehört fachliche Hilfe ins Boot.
Vom Alter her ist noch wichtig, dass Angst die Emotion ist, die am längsten Unterstützung von Bezugspersonen benötigt: Ein 7-jähriges Kind, das Nähe und Umarmungen gegen seine Angst benötigt, ist kein Grund für ein „Dafür bist du doch jetzt schon zu groß!“.
Wie ermutige ich mein ängstliches Kind am besten, wenn es neue Ängste entwickelt und ganz plötzlich z.B. nicht mehr allein zu Freunden will?
Wichtig ist, sich und dem Kind Zeit zu geben. „Du musst keine Angst haben.“ Und andere Erwartungen an ein schnelles Weggehen dieser Gefühle sind nicht sinnvoll. In diesem Fall wäre zum Beispiel gut denkbar, dass Eltern erst einmal über ihre eigenen Ängste mit dem Kind ins Gespräch kommen.
Wovor haben sie sich gefürchtet mit 6 oder 12 oder 24? Wo sind sie heute noch nicht gern allein und furchtbar aufgeregt? Wie fühlt sich das an? Welche Strategien haben sie für sich gefunden? Und auch: Wie gut sind die Gefühle, wenn sie es doch geschafft haben?
So ein „hintenrum zum Thema kommen“ kann Kindern sehr helfen, die sich vielleicht sonst damit schwertun, über ihre Angst zu sprechen – auch bei den Kindern, die weglaufen oder sich die Ohren zuhalten, sobald es um unangenehme Gefühle geht.
2 comments
Angst entsteht, wenn ich mit Situationen oder Bedingungen umgehen muss , die mir nicht vertraut sind.
Je weniger Widrigkeiten wir zu verkraften haben , desto geringer ist unsere Resilienz.
Traut euch und euren Kindern etwas zu, vermeidet nicht so viel, dann wird Neues immer leichter.
Was hier geholfen hat ist die Erkenntnis, dass nicht derjenige mutig ist, der etwas ohne Angst tut, sondern derjenige, der es trotz Angst tut.