Ihr Lieben, Maren Tromm hat zwei Kinder im Alter von 12 und 14 Jahren und berät seit zehn Jahren Eltern als Erziehungs-, Einzel- und Paarcoachin, Familientherapeutin, dipl. Psychosoziale Beraterin, Elternkursleiterin, Autorin, Podcasterin (Elternschokolade) und Speakerin. Mit ihrer Familie lebt sie in Wettingen und im April erschien ihr erstes Buch: Elternratgeber – Erziehen ohne Schimpfen für Dummies. Aggressionen. Für uns hat sie mal aufgeschrieben, was wir als Mütter und Väter tun können, wenn das eigene Kind mit Aggressionen zu tun hat und haut, kratzt und beißt.
Liebe Frau Tromm, unsere Leserfrage „Warum haut mein Kind andere Kinder“ wird sehr häufig geklickt, geht es vielen Eltern mit ihren Kindern so?
Ja, auf jeden Fall. Wenn Kinder hauen, beissen oder sich in irgendeiner Form aggressiv zeigen, löst das in vielen Eltern starke Gefühle aus. Gefühle wie Angst, Wut und Hilflosigkeit. Zum Glück gehen heutzutage dann viele Eltern auf die Suche nach Antworten und klicken diesen oder ähnliche Artikel an. Das ist toll. Daher: Klopfen Sie sich gern grad kurz mal selber auf die Schulter. Super, dass Sie da sind und mehr wissen möchten.
Ich weiß noch, dass unsere Große (damals zweieinhalb) auch nach der Geburt ihrer Zwillingsbrüder in der Kita anfing, zu beißen. Wir wurden dann zum Elterngespräch zitiert… es hörte aber dann auch einfach wieder auf… kommt das häufiger vor?
In dieser Frage sind verschieden Punkte wichtig. Ja es passiert so manchen Eltern, dass sie in die Kita »zitiert« werden, weil sich ihr Kind nicht »richtig« verhält. Oft passiert dies auch im Zusammenhang mit der Geburt eines oder mehrerer Geschwisterchen. Solche Situationen sind für Eltern oft unangenehm, beschämend und , alarmierend. Und wenn dies in einer Phase passiert, in der Eltern ohnehin stark gefordert sind, schlecht schlafen und buchstäblich »ums Überleben« kämpfen, können Sie sich sicher vorstellen, dass es wichtig ist, positiv auf das Verhalten aller zu schauen.
Ich vergleiche das gerne mit einem Computer, der bereits viele geöffnete Seiten und Tasks hat. Überall blinkt es und wartet auf Antwort. Wenn dann noch eine unbekannte, bedrohliche Fehlermeldung aufpoppt, braucht es Menschen, die sortieren, orientieren und Ruhe ins System tragen.
Als zweites gehe ich nun auf das Verhalten ein: Ja auch das passiert häufig, dass Kinder anfangen zu beissen, wenn ein Geschwisterchen dazu kommt. Wenn Kinder hauen oder beißen, drücken sie damit aus, dass sie selbst verletzt und/oder überfordert sind. Oft wurden die Grenzen des Kindes, das beißt oder haut, vorher verletzt. Zum Beispiel in dem es nicht mitspielen durfte, es lange warten musste oder sein Nein nicht gehört wurde. Doch darauf wird häufig gar nicht geachtet.
Um es klarer zu machen lassen sie uns ein Beispiel nehmen. Tom haut oder beißt Theo, nachdem dieser ihm immer wieder seinen Turm zerstört hat und er sich nicht wehren konnte. Das ist klar frustrierend. Das Kind kann seine Wünsche nicht durchsetzen und fühlt sich nicht selbstwirksam. Gerade dieser Aspekt ist in der Kitaphase sehr wichtig. Kinder wollen autonom sein und sich gleichzeitig sicher und verbunden fühlen. Nach der Geburt von Geschwistern oder Zwillingen fühlen sich die älteren Kinder oft allein, ausgeschlossen und unsicherer. Und weil sie die Gefühle nicht regulieren oder anderweitig ausdrücken können, hauen oder beissen sie zum Beispiel.
Also, Hauen und Beißen sind zunächst ganz normale, gesunde und wichtige Reaktionen. Sie zeigen, wie es den Kindern geht. Man sagt ja auch: »Ich habe dich zum Fressen gern.« Beißen kann also auch ausdrücken: »Ich will mit dir in Verbindung sein, weiß aber gerade nicht, wie ich das sagen soll.«
Nun zur letzten Frage:
Ja, es kann sehr gut sein, dass sich das Verhalten plötzlich auflöst. Im besten Fall hat das Kind einen Entwicklungsschritt gemacht und gelernt, seine Gefühle besser zu kontrollieren oder konstruktiver auszudrücken. Im weniger günstigen Fall hört das Kind auf zu beißen, weil es gelernt hat, dass die Reaktion und/oder Strafe so unangenehm sind, dass es besser ist, seine eigenen Grenzen und Gefühle zu unterdrücken. Das ist jedoch nicht gesund für die spätere Entwicklung des Kindes. Viele Studien zeigen, dass Kinder, die aggressives Verhalten mit Strafen beantwortet bekamen, tendenziell gewalttätiger sind als diejenigen, die auch in schwierigen Momenten liebevoll in den Arm genommen wurden.
Als diplomierte Erziehungsberaterin stellen Sie immer wieder fest, dass viele Eltern hilflos, ohnmächtig und selbst richtig wütend werden, wenn Kinder beißen, schreien oder hauen. Was geschieht da in uns und mit unserem Nervensystem?
Der Anblick eines aggressiven Kindes katapultiert uns oft und unmittelbar in eine Art Überlebensmodus. Stresshormone werden ausgeschüttet, unser Herz beginnt zu rasen, der Atem wird schneller. In etwa so, als stünden wir einem Einbrecher gegenüber. Unser Gehirn schaltet dann in den Autopilot und greift auf altbekannte Instinkte oder als Kinder erlernte Muster zurück. Viele von uns wurden bestraft, bedroht, abgewertet und/oder ausgeschlossen, wenn sie sich so verhalten haben.
Statt aus ihrer eigenen »Not« heraus zu schimpfen oder zu drohen, weil der Glaubenssatz »Du musst sofort eingreifen! Konflikte löst man nicht mit Gewalt!« fest in ihnen steckt… wie könnten Eltern besser reagieren?
Zunächst einmal: Tief durchatmen und sich daran erinnern, dass, man nicht in Lebensgefahr schwebt sondern das da »nur« ein Kind in Not ist und unsere Hilfe braucht. Zweitens möchte ich hier betonen, dass der Satz »du musst sofort eingreifen sonst…« nicht stimmt! Kinder, deren Eltern Konflikte mit Machtmissbrauch lösen, sind im späteren Leben aggressiver oder überangepasster als Menschen, deren Eltern Konflikte friedlich gelöst haben. Also:
- Denke: Jeder Konflikt ist eine wichtige Lerngelegenheit für mich und mein Kind. Ich bin eine gute Mama, ein guter Papa!
- Nimm das Hauen deines Kindes nicht persönlich. Es sagt nichts über dich aus. Dein Kind setzt sich gerade für sich und seine Bedürfnisse ein. Das Kind ist also nicht aggressiv (im erwachsenen Sinne), sondern gerade überfordert oder verletzt.
- Sag stopp und bring dich und andere Personen in Sicherheit.
- Lenk die körperliche Handlung des Kindes in kurzen klaren Worten um. »Hau ins Kissen, beiss in die Möhre.« Die Gefühle deines Kindes dürfen raus, so wie sie rauskommen. Gefühle brauchen Raum.
- Hilf deinem Kind dabei, dass die Gefühle so rauskommen, dass keiner verletzt wird. Oft braucht es Druck und Gegendruck. Also biete deinem Kind zum Beispiel einen kleinen spielerischen »Kampf« an, den das Kind gewinnt. Ihr könntet euch Gegenüberstellen, die Hände gegeneinanderdrücken und versuchen euch über eine Linie im Raum zu schieben. Wie gesagt, dein Kind gewinnt.
- Beschreibe die Situation ohne zu bewerten. Was siehst du?
- Benenne das Gefühl und den Grund. Gib deinem Kind Worte und Orientierung, wieso es sich gerade so fühlt. Was war vorher? Was nervt? Alles darf sein.
- Gib deinem Kind Zeit zum Abkühlen.
- Strahle Hoffnung aus.
- Überlegt gemeinsam für die Zukunft neue Strategien für die Wut deines Kindes. Frag dein Kind: »Schatz, was könntest du sonst noch tun, ausser zu hauen? Hast du Lust das mal auszuprobieren?»
- Hilf deinem Kind so, neue Strategien zu lernen.
Befrei dich von dem Satz: Man haut nicht. Jeder Mensch haut auf irgendeine Weise. Du musst also nicht jetzt sofort erziehen und dem Kind erklären, dass man nicht haut.Kinder wissen das.
Da viele Eltern gern Beispiele hören, gehen wir jetzt in die Kita zurück. Es könnte als zum Beispiel zu klingen:
»Oh nein, jetzt konntest du deinen schönen Turm nicht verteidigen. Und obwohl du dreimal nein gesagt hast, hat Theo den untersten Stein rausgezogen.«
Pause.
»Das ist jetzt sicherlich total blöd. Kann das sein, dass du deinen Turm gern beschützen möchtest und dir das nicht gelingt? Das verstehe ich gut. Hättest du eine Idee, wie das gelingen könnte?
Nachdem sich das Kind abgekühlt hat:
Ich habe gesehen, dass du so wütend warst, dass du deine Fäuste gehoben und eingesetzt hast. Das kann ich gut verstehen. Hättest du vielleicht eine Idee, was dir sonst noch hilft, wenn du soo wütend bist?
Nochmal zum Unterstreichen: Heißt das, wir sollten besser nicht ebenfalls mit harten Sanktionen reagieren, weil wir dann im Grunde keinen Deut besser sind als die Kleinen in ihrer Wut und in ihren Aggressionen?
Ja, ganz genau. Menschen die in Wut sind, brauchen feinfühlige, emphatische Menschen, die die Situation und die schlimmen Gefühle verstehen und helfen, diese zu regulieren. Also Menschen, die deeskalieren.
Darf ich dazu noch ein Bild bedienen? Stellen Sie sich vor sie sind bei Nacht über die Reeling einer grossen Fähre gefallen. Zugebenermassen haben sie nicht genau zugehört, als die Sicherheitsvorkehrungen vorgelesen wurden. Das Wasser ist eiskalt. Alles um Sie herum ist stockdunkel. Die Fähre fährt weiter. Sie schreien um Hilfe. Zum Glück werden Sie gehört und gerettet. Was wünschen Sie sich, wenn Sie wieder an Bord sind? Eine Standpauke? Eine Strafe? Oder Menschen, die Ihnen Decken bringen und sich dafür interessieren, wie das für Sie war. Und was lernen Sie wann?
Nun ist ja jedes Kind anders: Welche Methoden können noch helfen, wenn mein Kind haut, beißt und kratzt?
Für Kinder, die häufiger beissen oder hauen, empfehle ich unbedingt einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Überlegen Sie mit Ihrem Partner:in, wieso das Kind beisst oder haut. Was könnte für das Kind gerade schwierig sein? Was hat sich geändert, ist neu? Entscheiden Sie sich für eine Antwort und verändern sie entsprechend. Also wenn das Thema Zwillinge schwierig und neu ist, lesen Sie sich in das Thema Geschwister ein. Dazu gibt es tolle Vorträge, die Ihnen in ein bis zwei Stunden wichtiges Wissen vermitteln und etliche Ideen und Lösungsansätze aufzeigen.
Geben Sie ihrem Kind von sich aus mal eine Weile mehr Sicherheit, Orientierung und Nähe.
Vereinbaren Sie Codewörter wie Banane. Wenn diese genannt werden, tritt jeder sofort einen Schritt zurück oder so.
Und es gibt auch Beissringe, Beissketten und Armbänder. Wenn es dem Kind hilft in seiner Wut zu beissen, ist das ja total okay. Lassen Sie uns das erlauben und ermöglichen. Solange, bis das Kind eine andere Strategie gefunden hat.
Was steckt meist hinter dem Verhalten der Kinder?
Kinder, die hauen oder beißen, sind überfordert und/oder verletzt. Meistens fehlt ihnen noch die sprachliche Fähigkeit, ihre Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken, und sie greifen dann zu körperlichen Mitteln. Auch Nachahmung von anderen Kindern oder Erwachsenen kann eine Rolle spielen. Es ist wichtig, die zugrunde liegenden Emotionen und Bedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen, anstatt nur das Verhalten zu bestrafen.
Sollten wir die Kinder anhalten, sich zu entschuldigen?
Nein, denn Kinder sind keine Unmenschen; sie wissen oft instinktiv, wenn sie etwas »falsch« gemacht haben und empfinden Scham. Wenn wir dann eine Entschuldigung erzwingen, trägt diese nicht dazu bei, dass das Kind sich verstanden fühlt und wirklich versteht, warum sein Verhalten falsch war. Viele Menschen erinnern es ihr Leben lang, wenn sie beim Nachbarn klingeln mussten.
Helfen Sie Ihrem Kind lieber, seine Gefühle zu erkennen. Ein ehrliches Verständnis und echtes Bedauern sind wertvoller als eine bloße, leere Geste. Und wenn es Ihnen dennoch ein Anliegen ist, Mitgefühl auszudrücken, leben Sie es selbst vor.
Beispielsweise so: »Theo, du hast den unteren Stein aus dem Turm gezogen. Der ist aber auch schön und spannend, der Turm. Und dann hat Paul dich geschubst und in die Schulter gehauen. Das war sicher unerwartet und hat weh getan. Theo, da habe ich nicht gut aufgepasst. Das tut mir leid.« Auf diese Weise fördern Sie nicht nur die emotionale Intelligenz Ihres Kindes, sondern helfen ihm auch, sich selbst und andere besser zu verstehen.
Sie beraten auch Fachpersonal, geben Sie da andere Tipps als an Eltern?
Ich bespreche mit Fachpersonal wie Erziehern oder Therapeuten zunächst mal den gleichen Weg wie mit den Eltern. Jedoch kann ich mit ihnen aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung auch spezifischere und tiefergehende Strategien anschauen. Wie etwa Verhaltenstraining, Rollenspiele, ein systemischer Blick auf das Familiensystem oder gezielte emotionale Förderung.
Wie können wir alle in Konflikten ruhiger bleiben, haben Sie da einen universellen Tipp für uns?
Wie sie schon selber so schön sagten, jeder Mensch ist anders. Daher tue ich mich schwer mit universellen Tipps. Gern kann ich ihnen erzählen, was vielen Menschen hilft:
- Die bewusste Atmung. Wenn man merkt, dass die Emotionen hochkochen, kann tiefes und langsames Atmen helfen, sich zu beruhigen.
- Oder das kurze Innehalten und Zählen bis zehn kann Wunder wirken.
- Eignen sie sich Kompetenz an. Sobald man das Verhalten der Kinder besser versteht, ist so vieles einfacher. Einfach weil man anders hinschaut und weiss, was zu tun ist, wenn eine Fehlermeldung aufpoppt. Und sei es im grössten Stress.
- Und mein Lieblingstipp: Schrauben Sie die eigenen Erwartungen runter. Ich kenne keinen Erwachsenen der schnell losbeisst, wenn es mal schwierig wird. Sie haben Zeit.
Sie haben vor kurzem ein Buch geschrieben. Was erwartet die Leserinnen und Leser Ihres Buchs «Erziehen ohne Schimpfen für Dummies»?
Das Buch nimmt Eltern auf eine Reise durch 18 Jahre Elternschaft mit und behandelt viele der grossen Themen, die alle Eltern beschäftigen. Also Themen wie bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung, Umgang mit schwierigem Verhalten, Kinderstreit, wie man Grenzen ohne Macht setz, wie ein Kind glücklich und selbstbewusst wird und und und, Auch die gewaltfreie Sprache, die Ermutigung – und wie man es schafft, dabei nicht sich selbst zu vergessen sind Teile des Buches. So gesehen, beleuchtet der Titel nur einen Aspekt davon.
Was hebt Ihr Werk von den vielen anderen ab, die es zu Erziehungsthemen gibt?
Das Buch beinhaltet das aus meiner Sicht beste Wissen aus diversen Erziehungsratgebern und welches meinen Kunden:innen am schnellsten und besten weitergeholfen hat. Das Buch ist zudem ein interaktives Mitmachbuch. Es enthält viele Übungen für die ganze Familien, einen Downloadbereich mit vielen Beispielvideos und Karten, die man sich zum Beispiel an den Kühlschrank hängen kann: Zehn Dinge, die Sie tun können, anstatt zu schimpfen. Zehn Tipps, wie Sie die Familie auf Kurs bringen. Oder zehn Wege, wie Ihr Kind Selbststeuerung lernt.