Früher war alles besser? Bestimmt nicht!

Früher war alles besser?

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Ihr Lieben, manchmal braucht man einfach schöne Geschichte, die Mut machen und zeigen: Die Welt ist nicht nur schlecht, die jüngeren Generationen nicht nur faul und alles, was in unserer Kindheit passierte, war auch nicht automatisch großartig. Mit genau diesen Beobachtungen hat sich auch unsere Leserin Annette gemeldet. Sie erzählt hier zwei Geschichten, die sie sehr berühren.

Früher war alles besser? Bestimmt nicht!

1. Bei uns wird keiner ausgeschlossen

„Meine Tochter geht in die 8. Klasse am Gymnasium. Gestern kam sie von der Schule nach Hause und berichtete, dass demnächst im Rahmen des Informatikunterrichts ein PC in seine Hardware-Bestandteile zerlegt und anschließend wieder zusammengesetzt werden müsse. „Mama, das kann niemand, außer ein paar Jungs, die sich für Technik interessieren. Der Rest der Klasse hatte Panik vor dieser Aufgabe.“

Und nun kommt’s: Damit der Rest der Klasse sich besser vorbereiten kann, zerlegen die besagten Jungs nun ihren heimischen PC in Teamwork, filmen das Procedere und stellen es in die Klassen-WhatsApp-Gruppe. Sie erklären Schritt für Schritt was sie tun, so dass alle es verstehen.

Ich fragte, ob denn tatsächlich die gesamte Klasse in dieser Chat-Gruppe ist. „Nein, es gibt drei oder vier, die dürfen kein WhatsApp, nutzen aber Signal, denen leiten wir das natürlich weiter.“ Das fand ich toll und fragte weiter: „Gibt es eigentlich irgendjemanden in der Klasse, der ausgeschlossen wird, den/oder die keiner leiden kann?“

Meine Tochter sagte sofort: „Nein“. Nein, ich war echt baff, denn wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann gab es da zwar kein Handy und virtuelles Mobbing – aber gab Hänseleien, Ausschließen, fiese Dinge, die auf Zetteln durch den Klassenraum flogen oder heimlich ausgetauscht wurden, Ausgrenzung. Ein Mädchen wurde deshalb damals sogar von der Schule genommen. Rückblickend eine Katastrophe, damals haben es irgendwie alle hingenommen, es wurde nie aufgearbeitet oder besprochen.

Zurück zu meiner Achtklässlerin. Ich erzählte kurz, dass das vermutlich selten vorkommt, dass sich alle mehr oder weniger vertragen und so ein Zusammenhalt herrscht. Wir haben uns noch lange dazu unterhalten und festgestellt, dass wir diesen Umstand jetzt einfach genießen – weil es nicht selbstverständlich ist, dass eine achte Klasse, mitten in der Pubertät, so zusammenhält, sich unterstützt und das als völlig normal ansieht. 

2. Alle haben es gewusst

Kürzlich habe ich einen ehemaligen Klassenkameraden aus der Grundschule wiedergesehen – nach über 30 Jahren! Nach der Wiedersehensfreude dachte ich den restlichen Tag immer wieder über ihn nach und erschrak vor den Erinnerungen, die in meinem Gehirn in einer stillen Ecke, unbeachtet über all die Jahre eingelagert waren und nun wieder lebendig wurden.

Ich erinnere mich, dass Paul – besagter Klassenkamerad – oft mit kaputter Brille in der ersten Reihe saß. Wenn die Brille mal wieder kaputt war, ging die Lehrerin ganz entspannt zu Paul und sagte: Na Paul, geht’s denn, da ist dem Papa wohl gestern wieder ganz schön die Hand ausgerutscht, was?“ Paule nickt, das Thema war beendet. Es war so selbstverständlich. Alle wussten, dass Paul von seinem Vater geschlagen wurde. Ständig war die Brille kaputt, deshalb saß er ganz vorn in der ersten Reihe, damit er auch was sehen kann, wenn die Brille noch zur Reparatur war.

Ich sprach meine Mutter auf Paul an und sie bestätigte mir alles. Sie sagte: „Es war halt damals so. Nein, da hat keiner was gemacht, was denn auch? Anfang der 1990er Jahre, da haben fast alle noch körperliche Züchtigung erfahren.“

Mich macht das sehr nachdenklich. Ob ich – sofern ich Paul nochmal wiedersehe – den Mut aufbringe, mit ihm darüber zu sprechen, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ihm peinlich oder er ist wütend oder verletzt. Ich bin mir aber sicher, dass keine Lehrkraft heute mehr so reden würde, dass die Eltern mit Mitschüler einschreiten würden. Dass es heute so viel mehr Bewusstsein für das Thema gibt als noch zu meiner Kindheit.

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9 comments

  1. Hallo,
    In meinen Augen ist es weder besser noch schlechter geworden. Einfach anders. Das körperliche Züchtigungen von Lehrern so gut wie nicht mehr vorkommen das stimmt und ist gut so. Denn es wurde viel zulange einfach akzeptiert. Sonst ist es aber doch eher so, dass entscheidend ist, wie eine Lehrperson handelt. Es gab schon früher Lehrpersonen die sich total bemüht haben und solche, die es nicht die Bohne interessiert hat, was unter uns Kindern so ablief. Das ist auch noch heute so.Ich kann das sehr gut bei meinen Kindern beobachten. Vieles steht und fällt mit der Lehrperson.
    Bei der ersten Geschichte fand ich es sehr toll wie die Kinder reagiert haben und sich gegenseitig unterstützt haben.Bravo ! Und doch habe ich mich auch gefragt, wie man als Lehrer auf so eine Aufgabenstellung kommt. War das bewusst ? wollte er schauen wie die Kinder reagieren und so den Klassenzusammenhalt fördern ? Oder hat er sich überhaupt nichts dabei gedacht und erwartet, dass alle Kinder das gleiche “ Rüstzeug“ für eine solche Aufgabe mitbringen ? In einer Klasse mit eher wenig zusammen Halt, wäre ja diese Aufgabe, für die meisten Kinder überhaupt nicht zu bewätigen gewesen…..

  2. Ich habe auch schon oft gedacht: was Lehrer noch vor 30 oder 40 Jahren im Klassenraum machten, das wäre heute undenkbar. Schüler beschimpfen, beschämen, sogar körperlich züchtigen. Da ständen heute (zu Recht!) alle auf den Barrikaden. Das Verhalten der Schüler untereinander hängt, denke ich, stark vom Schulklima und den Engagement der Lehrer ab, das ist sehr unterschiedlich. Aber vieles ist tatsächlich besser geworden (diese Schulhof-Prügeleien in meiner Grundschulzeit- sowas gibt es heute nicht mehr!!), das kann man schon mal würdig, auch wenn es natürlich noch Baustellen gibt.

  3. Naja, also ich weiß nicht , ob das überall so rosarot ist .
    Grad erst wieder einen Fachartikel gelesen, in dem auf Kindesmisshandlung hingewiesen wird, wenn zb das Verletzungsmuster nicht zum beschriebenen Unfallhergang passt.
    Eigentlich selbsterklärend, aber man muss es eben auf dem Schirm haben.
    Vor Jahren gab es schon mal ein Buch von Rechtsmedizinern (!), die darauf hingewiesen haben, wie schlecht Kinder in Deutschland vor Gewalt geschützt sind, wieviel passieren muss , bis endlich interveniert wird.
    Und das war noch lang vor Corona .
    Wird seitdem nicht besser geworden sein, leider.
    Ich denke eher , dass die Autorin (vermeintlich) in einer schönen bubble lebt. Ist kein Vorwurf, das tue ich auch .
    Aber das heißt eben nicht , dass es nicht auch ganz andere Zustände gibt, bzw wir davon nichts direkt mitbekommen, ich sag nur (a-)soziale Medien. Da finde ich, ist der Ton zT sehr rau geworden.

  4. Mobbing verlegt sich mehr und mehr in den digitalen Teil des Alltags, wo man Einzelne besser isolieren und angreifen kann, ohne dass Lehrer oder Eltern sofort bemerken, was los ist. Auch die Tatsache, dass alle Kinder in der Chat-Gruppe sind, muss nicht unbedingt etwas heißen. Je nachdem, wer der Admin ist und über die Mitgliedschaft bestimmt. Mobben kann man dann immer noch im Einzelchat.
    https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/cybermobbing-jugendliche-100.html

    Es ist heute nicht besser. Es ist nur anders, subtiler bzw. besser versteckt.

  5. Stimme ich zu. Kinderrechte werden heute viel mehr eingefordert als früher.
    Auch von den Kindern selbst. Unsere Kinder haben diese in der Schule durchgenommen und sind sich Ihrer Rechte sehr bewusst.

    Das macht das Leben der Eltern anstrengender, aber das Leben und die Selbstwirksamkeit der Kinder sehr viel besser.

  6. Hallo,
    leider kann ich dem Text so nicht zustimmen. Auch heute erleben Kinder Verwahrlosung,auch körperliche Gewalt. Auch heute denke ich, dass Nachbarn und Freunde NICHT vehement den Versuch aufbringen, die Situation zu stoppen. Leute sind zu sehr mit ihren eigenen Belangen beschäftigt. Engagierte Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter versuchen zu intervenieren.
    Die Klasse deiner Tochter ist ein schönes Beispiel aber sicher eine Ausnahme. Ausschließen, ärgern über andere zu lachen online oder auch offline ist in der Jugend eher die Regel als die Ausnahme.
    Durch mobbing auf den sozialen Netzwerken, wird die Hemmschwelle, dies zu tun, herabgesetzt. Das sind meine Beobachtungen…

    1. „Auch heute denke ich, dass Nachbarn und Freunde NICHT vehement den Versuch aufbringen, die Situation zu stoppen.“

      Ich habe vor ein paar Monaten ans hiesige Jugendamt geschrieben, weil ein Kind in der Nachbarschaft über alle mir bekannte Maßen schrie. Laut, verzweifelt, andauernd und häufig.

      Unfreundliche Antwort vom Jugendamt, paraphrasiert: Da ist nix. In Zukunft verschaffen Sie sich gefälligst selbst ein Bild der Familie, bevor Sie uns behelligen!
      (Klar doch. Soll ich heimlich durchs Fenster gucken? Einbrechen und Kameras installieren? Klingeln und nachfragen „Hallo, kann es sein, dass Sie Ihr Kind misshandeln? Nein, nicht? Dann ist ja alles gut!“?)

      Die haben sich wirklich nur belästigt gefühlt. Da fiel mir dann auch nichts mehr ein.

    2. Danke für diesen Artikel. Ich möchte auch einmal eine Lanze für die Lehrerschaft brechen. Zu meiner Grundschulzeit, Mitte der 80er, wurden noch Ohrfeigen im Unterricht verteilt. Mobbing war im Gymnasium an der Tagesordnung und hat niemanden interessiert, die Lehrer haben sich mitunter beteiligt statt zu helfen und es gab viel schwarze Pädagogik. Es gab natürlich auch andere und pädagogisches Engagement, aber in meinem schulischen Umfeld leider zu wenig. Das erlebe ich in den Schulen meiner Kinder ganz anders. Klar, es gibt Lehrermangel und Überforderung, aber der Umgang mit den Kindern hat sich -zum Glück (!)- doch sehr gewandelt. Es gibt mehr Wertschätzung, Unterstützung und Prävention und das färbt sich auch wieder auf das Verhalten und die Reife der Schüler*innen ab. Bei aller Kritik, die man am Bildungssystem ( zu Recht) äussern kann: meine Kindern müssen nicht mit einem unguten Gefühl im Bauch in die Schule gehen. Das ist Gold wert.

  7. Ich fühle diesen Beitrag sehr und sehe das genauso. Ich erlebe das bei meinen beiden Achtklässlern auch so: Sie sind viel sozial kompetenter als wir früher. In den Klassen wird viel mehr auf Zusammenhalt, Wertevermittlung und Teamgeist gesetzt. Es gibt Kompetenz Training bis Klasse zehn, in diesen Stunden mit den Klassenlehrern werden viele soziale Themen und Konflikte besprochen. Es gibt eine Schulpsychologin und mehrere Präventionstage, zum Beispiel zum Thema Medienkompetenz oder Essstörungen. Das gab es in meiner Schulzeit nicht. Gegen Gewalt, Mobbing und unangemessene Inhalte in zB WhatsApp Gruppen geht die Schule konsequent vor. Ich finde es sehr gut, dass dieser Beitrag der allgemeinen Stimmung von „Es wird alles immer schlimmer“ etwas entgegen setzt.

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