Das Mädchen steht vor dem Kleiderschrank und weiß nicht, was es anziehen soll. Ein warmer Sommertag in Deutschland vor vielen Jahren. Es entscheidet sich für eine graue Hose und ein T-Shirt, über das es eine dunkelblaue Trachtenjacke zieht. Die liebt sie besonders. Sie ist eine Erinnerung an einen schönen Familienurlaub in Tirol im vergangenen Jahr. Auf die Jacke sind rosa Blumen gestickt. Das Mädchen überlegt noch, ob es sie vielleicht abtrennen sollte, doch sie bringt es nicht über’s Herz. Sie weiß genau, dass alle schwarz angezogen sein werden. Und doch hat sich niemand Gedanken darüber gemacht, was die beiden Schwestern anziehen werden. Dabei ist doch gleich die Beerdigung.
Gestern wäre der dritte Geburtstag des Bruders gewesen. Das Mädchen ist neun Jahre alt. Das Mädchen bin ich.
Wenn ein Kind in der Familie stirbt, ist das für mich noch immer das Schlimmste und Unvorstellbarste, was einem im Leben zustoßen kann.
Erst, seitdem ich selbst Mutter bin erahne ich, WAS meine Eltern durchgemacht haben.
Erst seitdem ich Mutter bin, kann ich nachvollziehen, dass der Tod eines Kindes für manche Eltern das Ende der Beziehung, das Ende der Familie, vielleicht sogar das Ende von sich selbst bedeuten kann.
Mein Bruder starb überraschend während einer Urlaubsreise nach Frankreich. Was meine Eltern immer und immer wieder gesagt haben: „wir wären doch niemals mit einem kranken Kind verreist.“
Mein Bruder war gesund und wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich ihn und mich, im Meer spielen. Eine Landzunge hatte einen kleinen See gebildet und ich zog ihn in einem Schlauchboot. Und er kreischte vor Freude.
Gleich am zweiten Tag bekam er starke Bauchschmerzen, die nicht aufhörten, so dass meine Eltern schnell einen Kinderarzt aufsuchten. Ich erinnere mich an die Hitze im Wartezimmer. Ich erinnere mich auch, wie sehr mich sein Weinen und Jammern genervt hat.
Es hat mich Jahre gekostet um mich von diversen Schuldgefühlen zu befreien. Und ich glaube, dass das Schicksal der Geschwisterkinder ist. Du hast keine Schuld, aber du fühlst sie.
Momente in denen ich mich schuldig fühlte:
- dass ich das rote Rosenherz am Fuße des Sarges so schön fand.
- dass ich so gerne die Hand meines Vaters gehalten hätte, er aber den Sarg seines Sohnes trug.
- dass ich die Lieder blöd fand.
- dass wir nach der Beerdigung gefragt haben, ob wir „Heidi“ im Fernsehen schauen dürften, weil der Tag so lang war.
- dass ich in der Schule nicht mein schönstes Ferien-Erlebnis malen konnte. Nicht nur, weil ich keines hatte. Ich war auch so wütend auf die Lehrerin.
- dass ich nicht immer weinen konnte.
- dass ich nicht immer an ihn dachte.
- dass ich schlecht in der Schule wurde.
- dass nicht ich an seiner Stelle gestorben bin.
Mein Bruder wurde schnell in die Uni-Kinderklinik nach Bordeaux verlegt, wo er innerhalb einer Woche starb. Eine Sepsis hat ihm das Leben gekostet. Es war medizinisch nichts zu machen und bis heute ist unklar, woran er eigentlich erkrankte.
Woran ich mich erinnere:
- als wir den Sarg ausgesucht haben. Uns Mädchen war es wichtig, dass die Kissen schön weich und kuschelig waren.
- dass wir sein Lieblingsauto, sein Kuscheltier und sein Schlafsäckchen rausgesucht haben. Das, was bei ihm bleiben sollte.
- an meinen Vater, der immer und immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wird.
- an meinen Bruder, den wir noch einmal sehen durften. Der so friedlich da lag. Schlafend. Und doch hob sich die Bauchdecke nicht.
- an meine Mama.
- dass ich mir jahrelang das Weinen verboten hatte aus der Sorge, dass der Schmerz nachlässt und die Vergessenheit siegen könnte.
- dass wir mit einem leeren Kindersitz nach Hause gefahren sind. Eine endlose Fahrt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir eine Pause gemacht haben. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich mich getraut hätte nach einer Pause zu fragen.
Woran ich mich nicht erinnere:
Schmerz..
Heute gibt es wunderbare Begleitungen für Geschwisterkinder. Damals gab es das so noch nicht. Oder vielleicht auch: gar nicht.
Als ich vor zwei Jahren die Sendung 37 Grad mit dem Thema „Das Zimmer meines Bruders sah“ weinte ich die ganze Nacht durch. Nicht wegen meines Bruders. Sondern wegen mir. Und wegen meiner Schwester. Denn auch, wenn wir beide Kinder doch da waren, teilten wir das Erlebte nicht. Sprachen wir niemals davon. Nicht über unsere Traurigkeit. Über unsere Ohnmacht. Über unsere Angst. Über unsere Überforderung.
Ich habe bis heut nicht verstanden warum. Es war wie ein stilles Abkommen. Die Trauer der Eltern, die Tränen, die Stille waren schon kaum zu ertragen. Die eigene Trauer auch. Vielleicht spürten wir, dass wir keine Kraft mehr hatten, auch noch uns gegenseitig eine Stütze zu sein.
Wenn ein Geschwisterkind stirbt, dann ist es ganz klar: „hier geht es nicht um dich.“ Das muss gar nicht ausgesprochen werden. Das ist ein allgegenwärtiges Gefühl. Eines, dass für sehr lange Zeit bleibt. Für mich war es das Gefühl, was es mir mit am schwersten gemacht hat, gut zu mir zu sein. Es ging einfach nicht um mich. Ich habe das als Kind gespürt, aber erst Mitte Zwanzig hat es mich so richtig von den Füßen geholt. Ich kam nicht mit dem Leben klar. Ich konnte mich nicht abgrenzen. Ich konnte mich nicht spüren. Ich war stark und überspielte alles mit Leichtigkeit und Fröhlichkeit.
Bis ich es wagte, das "schwarze Meer der Traurigkeit" in mir anzublicken und darüber zu weinen, vergingen Jahre. Zu groß war die Angst, dem Schmerz ins Gesicht zu sehen. Zu groß die Angst, dass ich keinerlei Handlungsmuster hatte mit meinem Schmerz umzugehen. Und sie war sehr berechtigt. Ich hatte es als Kind nicht gelernt. Niemand hat mir geholfen. Niemand, von den Erwachsenen, der den Mut hatte, hinzusehen. Sicherlich nicht aus Gedankenlosigkeit. Sondern auch aus Angst. Aus Angst etwas Falsches zu sagen, zu machen, zu tun.
Vor einigen Jahren bat ich meine Eltern, dass ich die Trauerkarten einmal lesen dürfte. Es waren sehr viel. Und in nur einer einzigen fand ich eine Anrede, die uns beiden Mädchen bedachte.
In nur einer einzigen.
In diesem Jahr bin ich 40 geworden. Ich bin so alt wie meine Mutter, als mein Bruder starb. Meine älteste Tochter ist so alt, wie ich damals war. Es ist 30 Jahre her. Und ich bin dankbar, dass mein Bruder Raphael ein Teil von mir ist. Ich bin dankbar, dass ich heute die bin, die ich bin. Es war ein steiniger Weg. Manchmal muss ich noch immer sehr darüber weinen. Darüber, was das mit mir, mit uns gemacht hat. Aber es ist nicht mehr existentiell. Ich bin dankbar dafür, dass das Meer in mir heute blau ist. Ich betrachte das nicht als Selbstverständlichkeit.
Ich möchte euch Geschwistern Mut machen: Du kannst das Geschehene nicht ungeschehen machen. Du bist nicht schuld. Du hast ein Recht darauf zu leben. Ein Recht darauf glücklich zu sein.
Wenn du jemanden verloren hast, ein Elternteil. Ein Kind. Einen Freund. Dann möchte ich dir sagen: du hast ein Recht darauf wieder glücklich zu sein. Du darfst Freude empfinden. Resilienz ist ein Muskel, den man trainieren kann. Aber DU bist dafür verantwortlich, dass er wächst. Suche dir Wegbegleiter und Unterstützer.
Und suche sie auch und unbedingt für deine Kinder. Du musst das gerade nicht alles alleine schaffen und machen. Aber es ist, auch in großer Trauer, doch deine Verantwortung als Vater und Mutter deine anderen Kinder, die dich lieben und brauchen, eine Hilfe an die Seite zu stellen. Die für einen Teil des Weges den Teil übernimmt, den du gerade nicht geben kannst. Und DAS ist absolut ok.
Und für alle Außenstehenden: lasst die Menschen in ihrer Trauer nicht allein. Du musst keine Worte finden, wo du keine hast. Es reicht, wenn du da bist. Ganz ehrlich. Das reicht aus.
—–Die liebe Natalia hat schon einmal einen wunderbaren Gastbeitrag über ihre Tochter bei uns veröffentlicht, HIER könnt Ihr ihn lesen. Wer mehr von Natalia erfahren möchte, kann HIER auf ihre Homepage gehen, ihre Texte sind wunderbar und sie bietet auch Coachings an.
7 comments
Danke!
Vielen Dank für diesen ehrlichen und rührenden Text. Ich konnte es nie in Worte fassen. Mein kleiner Bruder starb als ich fast 4 war. Es war alles so verwirrend. Ich merkte, dass die Welt in ihren Grundfesten erschüttert war, konnte es aber nicht begreifen. Die versuche meiner Eltern es mir zu erklären sind nicht richtig zu mir durchgedrungen. Es war nichts mehr okay und doch so vieles plötzlich wie ich es mir gewünscht hatte. Endlich waren meine Eltern da, hatten Zeit, waren nicht mehr ständig im Krankenhaus und die schuldgefühle waren erdrückend. Wie hatte ich mir das je wünschen können. Ich merkte, dass es ihnen schlecht ging, also behielt ich meine Trauer und Verwirrung für mich. Ich wollte sie nicht auch noch belasten. Oft wäre ich gerne tot gewesen. Jahrelang habe ich alles verdrängt. Als im Teenager alter eine Schulkameradin ihren Bruder verlor kam es zum ersten Mal wieder an die Oberfläche, aber ich traute mich nicht darüber zu reden. In der Schule war ich die seltsame, die wenig Verständnis für jugendlichen Blödsinn hatte und immer gute Noten. Ich habe eben funktioniert. Mit dem Studium war es damit zu ende. Ich hatte mehr Zeit über mich und das Leben nachzudenken und mit Anfang /Mitte 20 hat es mich kalt erwischt und umgehauen. Da kam alles hoch und ich konnte nicht mehr funktionieren. Auch heute mit 30 haut es mich noch ab und an um, aber ich brauche nicht mehr so lange um wieder auf die Füße zu kommen.
Danke für diesen Artikel. So sehe ich, dass ich nicht die einzige bin und vielleicht doch nicht ganz so verrückt wie ich immer dachte
Dein Text bringt mich zum weinen…
…ich habe meinen Bruder verloren, als ich noch im Bauch meiner Mutter war. Als Kind habe ich die Trauer eher als beiläufig erlebt. Oft an ihn gedacht und mir gewünscht, er wäre noch da. Wirklich eingeholt hat mich die Trauer, als Mutter. Ich hatte so unsägliche Angst um meine erste Tochter. Bin in Panik ausgebrochen, als ich sie im KKH im Schlaf nicht mehr atmen hören konnte (weil das im Tiefschlaf viel zu flach und auch durch Hand auflegen nicht spürbar war). Und heute noch- fast 6 Jahre später, male ich mir ständig das Schlimmste aus, wenn sie mal länger schlafen als erwartet o.ä.
Ich habe keine gemeinsamen Erfahrungen mit meinem Bruder, aber er ist ein wichtiger Teil meines Lebens.
Deine Geschichte finde ich ebenso ergreifend. Es hat mich richtig gepackt, wie du das beschrieben hast. Und ich finde es total motivierend, dass du nun deinen Frieden damit gemacht zu haben scheinst. Ich habe psychologische Hilfe- wegen dem großen Ganzen, aber er ist ein wichtiger Teil davon. Dennoch finde ich es unheimlich toll, dass es Trauerbegleiter für verschiedene Zielgruppen gibt- das hat meiner Mutter damals das Leben gerettet.
Alles Gute dir und deiner Familie!
Sandra
Liebe Natalia,
Liebe Natalia,
Ich Danke dir für deinen bewegenen Beitrag. Vor allem aber für deine Sicht als Geschwisterkind, denn Kinder denken und fühlen anders als Erwachsene. Und sie gehen anders mit so einem schlimmen Schicksalsschlag um.
Ich danke dir sehr, dass du Geschwisterkindern eine Stimme gibst und darauf aufmerksam machst, dass sie in so einer Situation dringend Hilfe benötigen.
Ich war 7 als mein kleiner Bruder im Familienurlaub plötzlich an Diabetes erkrankte. Fast wäre er gestorben. Ich kann vieles von dem was du schreibst nachfühlen. Vor allem aber die Überforderung und Hilflosigkeit. Auch ich hatte lange Schuldgefühle, weil ich lieber im Urlaub geblieben wäre oder weil ich so eifersüchtig auf all seine Geschenke im Krankenhaus war…
Lange her, aber irgendwie immer noch frisch… Durch deine Worte konnte ich den plötzlichen Verlust unserer Unbeschwertheit von damals, noch einmal richtig beweinen. Das war sehr befreiend!
Ich Danke dir liebe Natalia
Tief bewegt
Tief bewegt hat mich Dein Text. Meine Kinder sind 4 und 1 und ich kann mir nur ansatzweise vorstellen was es mit mir machen würde, müsste ich mich von einem meiner Kinder verabschieden müssen. Ich weiß nicht wer mir in Deiner Geschichte mehr leid tut, die Eltern oder die Geschwister. Ich hätte in dieser Situation sicher auch nicht die Kraft, meine Familie zu stützen. Aber ich bin froh, dass es mittlerweile Hilfe gibt- für alle Hinterbliebenen.
Ich wünsche Dir alles Gute!
Antwort auf Kommentar von Kathrin
Liebe Kathrin, danke für deine Worte. Dir dürfen beide leid tun 🙂 Meine Eltern und wir Kinder mussten eigene Wege finden, um mit der Trauer zu leben. Meine Eltern als Ehepaar und auch als Elternpaar. Und dann noch jeder für sich alleine. Der Verlust ist ja besonders am Anfang spürbar: Kinderzimmer aus- und umräumen, die ganzen Formalitäten und dann muss irgendwann der Alltag kommen. Und dann wird es erst richtig schwer. Ich glaube, man hat nicht die Aufgabe, die Familie zu stützen, sondern sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Und sich Hilfe zu holen. Und alleine das, habe meine Eltern nicht alleine geschafft. Sie hätten jemanden gebraucht, der sie an die Hand genommen hätte. Und wenn mir da mit meinem Beitrag gelungen ist, dass es jemanden braucht, der diese Hand reicht, dann bin ich dankbar. Dir alles Gute!
ich danke dir für deine
ich danke dir für deine Geschichte, für deine Sichtweise wie du damals mit dem Tod deines Bruders umgegangen bist. Wir haben auch ein Kind verloren, unsere beiden Großen waren 3 und 5. Heute gibt es viele wunderbare Angebote für Kinder ab dem Grundschulalter, sehr selten jedoch für kleinere Kinder. Es hat sich sehr viel getan, und doch nach wie vor zu wenig… du hast mich daran erinnert, dass die Trauer nie aufhört, sich verändert und es nie zu spät ist sich seinen Gefühlen zu stellen und mit ihnen Wege zu finden mit dem Verlust umzugehen. Ich danke dir von Herzen dafür!
Antwort auf Kommentar von Hillevi
Ich danke dir für deine Worte und möchte dir mein tiefes Mitgefühl ausdrücken. Was für ein Geschenk für deine beiden Kinder, dass du dir so Gedanken um sie machst. Und du hast recht: außer ein paar schönen Kinderbüchern gibt es für jüngere Kinder wenig. Es gibt den Verein „Leben ohne dich“, die Angebot an Eltern und Geschwister machen. Sei fest umarmt. Und für euch alles Gute.