„Was sind typische Anzeichen für kindlichen Autismus?“ Interview mit einer Autismus-Expertin

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Ihr Lieben, wir haben hier schon ein paar Artikel zum Thema Autismus veröffentlicht, die Euch immer sehr bewegt haben und auf die wir viele Mails und Nachrichten bekommen haben. Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir heute Dipl. Psych. Elke Donaiski von der Kinder- und Jugendambulanz von „Autismus Deutschland, Landesverband Berlin e. V.“, bei uns im Interview haben. 

Wir bekommen immer wieder Post von Müttern, die nicht genau wissen, ob ihr Kind autistische Züge hat oder nicht. Können Sie typische Anzeichen nennen?

Erste Auffälligkeiten kann man manchmal bereits sehr früh bemerken, manchmal aber auch erst im Kindergarten- oder Schulalter. Ein erstes Anzeichen kann sein, dass das Kind immer sehr für sich ist, sich aus allen sozialen Situationen zurückzieht und wenig oder keinen Kontakt zu anderen Menschen aufnimmt. Babys und Kleinkinder können sehr zufrieden wirken, wenn sie alleine sind, suchen keinen Körperkontakt oder können ihn nicht ertragen, andere entwickeln sich zu hoch irritablen Schreikindern und müssen immer bei der Mama auf dem Arm sein. Oft ist der Blickkontakt auffällig, entweder sie meiden ihn oder sie schauen, dann fehlen aber der kommunikative Charakter im Blick und das Verstehen von, bzw. das Reagieren auf Mimik. Es scheint manchen Kindern gleichgültig zu sein, wer sie auf dem Arm trägt, sie machen keinen spürbaren Unterschied zwischen fremden Personen und den Eltern. 

Oft fällt aber erst in der Kita auf, dass das Kind keinen angemessenen Kontakt zu anderen Kindern hat, sehr irritiert wirkt, beim Morgenkreis nicht mitmachen möchte und sich aus allem heraushält. Manchmal werden bereits gelernte Inhalte vergessen, die Sprachentwicklung kann stagnieren, sich zurück entwickeln oder gar ausbleiben. Viele Kinder zeigen merkwürdige Bewegungen, wie Arme wedeln, klappern oder klopfen oder auch Stereotypien und einen ausgeprägten Sortier- und Ordnungsdrang. 

Auch scheinbar unvermittelte Wutausbrüche oder Schreiattacken, genannt „Meltdown“ (=„Kernschmelze“) sind möglich, wie es auch in Ellas Blog zur Sprache kommt. Dort heißt es: „Dahinter steht entweder ein Frust, dass das Erwartete nicht eintritt oder aber eine „Überladung“ von Reizen, ein sog. „Overload“. Die Betroffenen schreien laut, werfen Gegenstände und haben keine Kontrolle mehr über ihr Verhalten. Manchmal verletzen sie sich selbst, schlagen z.B. mit dem Kopf an die Wand oder beißen sich, um alle anderen Reize, die sie nicht beeinflussen können, zu überdecken. Allerdings ist das Schmerzempfinden oft herabgesetzt, so dass Verletzungen in dem Moment gar nicht bemerkt werden.“

Die meisten Menschen mit Autismus haben eine Über- oder Unterempfindlichkeit der Sinneswahrnehmung oder auch der Körperwahrnehmung. Beispielsweise sind viele extrem geräusch- oder geruchsempfindlich; Reize wie Kälte, Hunger oder Toilettendrang können manche kaum wahrnehmen. Diese Wahrnehmungsbesonderheiten sind bei jedem Menschen anders. Es ist keine „Macke“, die man verbieten kann.

Manchmal fällt das autistische Verhalten von Asperger-Kindern erst in der Schule auf, wenn der Leistungsanspruch dazu kommt und die Erwartungen an die soziale Kompetenz der Schüler/innen steigt.

Was sollten Eltern tun, wenn sie vermuten, dass ihr Kind autistisch ist?

Wenn Eltern beobachten, dass sich ihre Kinder nicht gut entwickeln, sollten sie zunächst den Kinderarzt aufsuchen und ihn um Rat fragen. Dieser überprüft vielleicht zunächst das Hör- und Sehvermögen, da z.B. viele Kinder, die nicht gut reagieren, einfach nur nicht gut sehen oder hören können.

Sind hier Störungen ausgeschlossen, wird er sie an ein Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), eine Spezialambulanz oder eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie verweisen, in dem ein interdisziplinäres Team das Kind untersucht, therapeutisch versorgt und die Eltern berät. Meist ist eine frühe Förderung, z.B. in der Physiotherapie oder Ergotherapie das Wichtigste und der Verdacht bleibt eine Weile ein Verdacht. Auffälligkeiten in der frühen Kindheit können durch verschiedene Störungen oder Erkrankungen auftreten und weisen nicht immer nur auf Autismus hin. 

Die Diagnose sollte durch eine qualifizierte fachärztliche Stelle (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sozialpädiatrie) gestellt werden, die auch die Differentialdiagnostik abklären kann. Beratungen gibt es in speziellen Autismus-Kompetenzzentren.

Wie kann man das Kind unterstützen, besser mit den eventuellen Einschränkungen leben zu können?
 

Das Wichtigste für Eltern ist, sich intensiv mit den Besonderheiten von Autismus zu beschäftigen, zu lernen was das Autistische an ihrem Kind ist, warum es was nicht ertragen kann oder warum es sich so verhält, wie es sich verhält. Nur wenn sie verstehen, was ihr Kind plagt, können sie ihm helfen. Sie sollten sich schnell an erfahrene Autismus-Fachleute wenden, sich helfen lassen und ihre Sorgen ansprechen. Sie sollten nicht darauf hoffen, dass sie alles alleine hinbekommen oder „es sich schon legen wird“.

Oft werden sie als „schlechte Eltern“ hingestellt, die ihr Kind nicht erziehen können oder die eine Beziehungsstörung verursacht haben. Auch diese Vorwürfe nagen am Selbstwertgefühl und tragen zu einem Teufelskreis aus Verzweiflung, Ärger, Frust, Hilflosigkeit, Trauer und Wut bei. Soweit muss es aber nicht kommen. 

Über die Krankenkasse werden Therapien finanziert. Welche für das betroffene Kind richtig ist, entscheidet der Kinderarzt. Das Jugendamt finanziert autismus-spezifische Förderung oder Einzelfallhilfe. In der Schule kann ein sonderpädagogisches Feststellungsverfahren prüfen, ob und welcher Nachteilsausgleich Sinn macht und eingesetzt werden soll. 

Wenn das autistische Kind und seine Eltern störungsspezifische und angemessene Unterstützung erhält, die sich an seinem aktuellen Bedarf orientiert, kann in vielen Fällen ein gutes Familienleben möglich sein.

Welche Vorurteile gibt es über Autismus und welche stimmen nicht?

Ein häufiges Vorurteil ist, dass Asperger-Autisten hochbegabt sind. Das stimmt in den meisten Fällen nicht, nur einige wenige sind tatsächlich hochbegabt. Auffallend ist jedoch schon bei kleinen Kindern, dass ihre Sprachentwicklung sehr früh sehr gut ist mit einem manchmal enormen Wortschatz und einer erwachsenen, mitunter altklugen Sprechweise. Das wirkt hochbegabt, ist es aber nicht.

Ein weiteres Vorurteil ist, dass Autisten keinen Kontakt wollen. Viele wünschen ihn sich schon, aber anders. Viele möchten Freunde haben, wissen aber nicht, wie es geht, sozial kompetent und empathisch zu sein. Chats sind z.B. als Austausch gute Möglichkeiten, da hier das direkte Gegenüber mit all seinen „unverständlichen Ausdrucksformen“ fehlt.

Auch denken viele, Autisten seien grundsätzlich minderbegabt oder gar geistig behindert. Das stimmt nur bedingt. Menschen mit frühkindlichem Autismus können normal begabt oder auch lernschwach oder intelligenzgemindert sein, unabhängig davon, ob sie sprechen können oder nicht. Menschen mit Asperger-Syndrom haben per definitionem  mindestens eine durchschnittliche Intelligenz, manchmal eine überdurchschnittliche, manchmal spezielle Begabungen in einzelnen Bereichen.

Welche unterschiedlichen Arten von Autismus gibt es?

Autismus-Spektrum-Störungen sind „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ und gekennzeichnet durch komplexe Störungen des zentralen Nervensystems, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar machen.  Derzeitige Grundlage der Diagnose sind die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen Diagnosemerkmale der ICD-10-GM.  Autismus-Spektrum-Störungen sind den (tiefgreifenden) Entwicklungsstörungen zugeordnet, die kognitive, emotionale, soziale, sprachliche und motorische Beeinträchtigungen umfassen. 

Es werden folgenden Formen unterschieden: 

  • der Frühkindliche Autismus
  • das Asperger-Syndrom 
  • der Atypische Autismus

Der Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) wird seit längerem als Oberbegriff für das gesamte Spektrum autistischer Störungen verwendet, da die Unterscheidung in der Praxis nicht immer leicht zu treffen ist und auch diagnostische Studien dafür sprechen, dass die verschiedenen Ausprägungen auf einem gemeinsamen Autismus-Spektrum einzuordnen sind (Noterdaeme, 2011).

Frühkindlicher Autismus

Bei dieser Form der Autismus-Spektrum-Störung besteht eine Beeinträchtigung der Sprachentwicklung und oft auch der kognitiven Funktionen. Unter dem Begriff „High functionning Autismus“ (HFA) versteht man ein „hohes Funktionsniveau“ eines Menschen mit frühkindlichem Autismus. Manche Kinder weisen in ihrer frühen Kindheit die typischen Merkmale des frühkindlichen Autismus auf, entwickeln später jedoch die Fähigkeit, komplizierte Sätze zu sprechen, und bilden grundlegende soziale Fertigkeiten und normale intellektuelle Fähigkeiten aus. Als Jugendliche sind sie oft nicht mehr von einem Menschen mit Asperger-Syndrom zu unterscheiden.

Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich von anderen Autismus-Spektrum-Störungen  in erster Linie dadurch, dass in der Regel keine Entwicklungsverzögerung bzw. kein Entwicklungsrückstand in der Sprache oder der kognitiven Entwicklung vorhanden ist. Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom besitzen eine normale allgemeine, in Teilgebieten manchmal hohe Intelligenz. Hingegen sind in der psychomotorischen Entwicklung und der sozialen Interaktion Auffälligkeiten festzustellen.  Besonderheiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen und Sinneseindrücken treten auch bei Menschen mit Asperger-Syndrom häufig auf. 

Der Atypische Autismus unterscheidet sich vom Frühkindlichen Autismus durch einen späteren Beginn oder dadurch, dass die Symptomatik nur unvollständig vorhanden ist, d.h. es sind nur zwei von drei Symptombereichen (Kommunikation, Soziale Interaktion, Repetitive Verhaltensweisen und spezielle Interessen) vorhanden. Sensorische Besonderheiten können allerdings ebenfalls auftreten. Der Atypische Autismus steht häufig in Verbindung mit einer Intelligenzminderung, wird als Diagnose (leider) aber auch vergeben, wenn das Erscheinungsbild nicht ganz eindeutig ist.

Was genau ist die Ursache für Autismus?

Bei den meisten Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung spricht man von einem primären oder auch idiopathischen Autismus, d.h. dass eine direkte Ursache nicht bekannt ist (Tebartz v. Elst, 2016).  Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer Erkenntnisse hervorgebracht, auch wenn die Ursachen für Autismus-Spektrum-Störung immer noch nicht abschließend geklärt sind. 

Folgende Ursachen werden diskutiert:

1.  Genetische Faktoren spielen eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen, wie Zwillings- und Familienstudien oder auch molekulargenetische Befunde zeigen (Noterdaeme, 2009). 

2.  Die genetischen Faktoren können in Verbindung mit Umweltfaktoren wirksam sein. Risikofaktoren, die diskutiert werden sind:

  • Ein erhöhtes mütterliches und väterliches Alter ist als Risikofaktor mehrfach belegt worden
  • Virusinfektionen in der Schwangerschaft wurden vielfach untersucht. Lediglich für die Rötelninfektion konnte bislang eine höhere Rate von Autismus-Spektrum-Störungen nachgewiesen werden. 
  • Oft wird vermutet, dass Geburtskomplikationen eine Rolle in der Entstehung von ASS spielen. Meist sind aber bei Kindern mit einer genetischen Veränderung schwierige Geburtsverläufe die Folge dieser Veränderung und nicht die Ursache der Störung. 
  • Extrem Frühgeborene stellen eine Risikogruppe dar. Eine Studie bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g bezifferte das Risiko, autistische Symptome zu entwickeln, mit 26 % (Limperopoulos et al. 2008). Eine weitere große englische Studie gibt ein um 65-fach erhöhtes Risiko für eine Autismus-Spektrum-Störung bei Frühgeborenen vor der 26. Schwangerschaftswoche an (Kuban et al. 2009).

Der sogenannte sekundäre Autismus wird auch als syndromaler Autismus bezeichnet (Tebartz v. Elst, 2016). Hier lässt sich ein genetisches oder neurologisches Syndrom als Ursache der Autismus-Spektrum-Störung zuordnen. Dazu gehören z.B. das Fragile-X-Syndrom, die Tuberöse Sklerose, Angelmann-Syndrom und auch Infektionen mit Röteln. Laut Bölte (2010) liegt bei 6-25% der Autismus-Fälle ein solches Syndrom vor.

 Wie erleben Sie die Gesellschaft im Umgang mit autistischen Menschen?
 

Es gibt nicht „die Gesellschaft“. Viele Menschen hatten noch nie mit Menschen mit Autismus zu tun und wissen einfach nicht, was Autismus im Alltag bedeutet und wie sie sich verhalten sollen. Möglicherweise verlangen sie autistischen Menschen zu viel Normalität ab und versuchen irrtümlich mit Strenge, das Verhalten zu ändern. 

Was würden Sie sich wünschen für den Umgang mit Autismus?

Je mehr man über die Besonderheiten von Autismus weiß, umso einfacher ist es, diesen Menschen mit Respekt, Empathie und Wärme zu begegnen. Manche Verhaltensweisen wirken wunderlich oder befremdlich, haben aber ihren Sinn. Das muss man wissen. Jeder, der mal in einer Situation absoluter Überforderung, Stress und Gereiztheit war, weiß, wie unangenehm sich das anfühlt und was helfen kann, da heraus zu kommen. Und dennoch kann man nicht nacherleben, wie das Nervensystem eines Menschen mit Autismus die vielen viel zu starken Reize verarbeitet.

Was möchten Sie Eltern sagen, die gerade die Diagnose Autismus für ihr Kind bekommen haben?

Eltern, die gerade die Diagnose Autismus bei ihrem Kind erhalten haben, sollten sich an spezialisierte Fachleute wenden und sich über das Störungsbild informieren, sich beraten lassen und Hilfen um das Kind herum installieren. Das kann autismus-spezifische Förderung sein, Therapien und aber auch Entlastung für die Eltern selbst. Es gibt viele gute Literatur, Elterngesprächskreise und andere Vernetzungsmöglichkeiten. Je nach Alter des Kindes und Ausprägung der Form des Autismus‘ sind andere Hilfen nötig und möglich. Keine falsche Bescheidenheit und vor allem: Haben Sie keine Scheu, um Hilfe zu bitten. 

——–ZUM WEITERLESEN:

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