Meine Tochter ist selektiv mutistisch – Interview mit Katja

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Liebe Katja, deine Tochter ist selektiv mutistisch- was genau bedeutet das?

Das bedeutet, dass meine Tochter (jetzt fast 9) nur mit ausgewählten Menschen und in bestimmten Situationen spricht. Sie trifft diese Wahl aber nicht bewusst – bei manchen klappt es, bei anderen nicht. Sie sagt selbst, dass die Worte zwar in ihrem Kopf sind und herauswollen – der Mund aber einfach nicht aufgeht, um sie heraus zu lassen. Eine persönlichere Ebene – also bei Menschen, die nicht zur Familie gehören, aber mit denen man trotzdem häufiger zu tun hat als mit völlig Fremden (z.B. Erziehern und Lehrern, Ärzten u.ä.) –  macht das Sprechen für sie quasi unmöglich.

Mittlerweile (nach ca. 5 Jahren Therapie) ist sie durchaus in der Lage, sich ein Eis oder ein Getränk zu bestellen – ansonsten spricht sie nur in der Familie und mit wenigen Freundinnen. Die Art und Weise wie der Mutismus sich zeigt und die Ausprägung sind jedoch von Kind zu Kind ganz unterschiedlich. Ganz zu Anfang war nicht nur das Sprechen betroffen, sondern sie war auch körperlich wie erstarrt – hat sich kaum bewegt, immer nach unten geschaut, nicht gehustet, nicht gelacht, nicht geweint… Auch das ist typisch.

Wann ist das das erste Mal aufgetreten beziehungsweise wann ist es dir das erste Mal aufgefallen?

Meine Kinder waren beide immer schon ausgesprochen zurückhaltend und brauchten bei Menschen außerhalb der Kernfamilie lange, um „warm“ zu werden. Da die betroffenen Kinder ja in der Familie meist ganz normal sprechen, fällt der Mutismus oft erst auf, wenn sie in den Kindergarten kommen. Bei uns war es so, dass eine Bekannte mich ansprach, sie hätte einen Artikel über Mutismus gelesen und meinte „wenn deine Kinder das nicht haben, dann weiß ich es auch nicht…“.

Bist du dann mit deinem Kind zum Arzt? Und hast du sofort die Diagnose bekommen?

Wir haben zunächst online recherchiert – wie man das eben heute so macht 😉 Unsere Kinderärztin war immer gegen Panikmache und vorschnelle Reaktionen und hat uns dazu geraten, erstmal abzuwarten. Wir haben uns dann aber trotzdem dazu entschlossen, die Diagnose in einer Praxis für Logopädie durchführen zu lassen. Das Ergebnis war eindeutig: beide Kinder sind selektiv mutistisch.

Mein Sohn hat sein Schweigen nach einem Jahr im Kindergarten gebrochen und hatte seitdem auch keine „Rückfälle“ mehr. Er ist jedoch sehr schüchtern im Umgang mit Fremden. Ich vermute daher, dass es sich bei ihm wirklich nur um eine ausgeprägte Schüchternheit und weniger um Mutismus gehandelt hat. Meine Tochter hingegen ist ganz und gar nicht schüchtern! Sie weiß genau, was sie will und was nicht – und kann dies auch wortlos durchsetzen.

Gibt es Therapiemöglichkeiten?

Es gibt unterschiedliche Therapieansätze, die aber (soweit ich weiß) alle auf psychotherapeutischer und/oder logopädischer Basis beruhen. Wir haben zunächst in der logopädischen Praxis, in der auch die Diagnose gestellt wurde, eine Therapie begonnen.
Hier geht es natürlich nicht darum, die Sprachqualität zu verbessern oder Sprachfehler auszumerzen – sondern ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, aus dem heraus es möglich ist, nach und nach die Sprachblockaden zu überwinden. Im Laufe der Zeit haben wir zudem den Kontakt zur TU Dortmund aufgenommen. Dort wird bereits seit über 30 Jahren zum Thema Mutismus geforscht, gelehrt und therapiert.
Die Kompetenz und Freundlichkeit, die wir dort erfahren haben (und immer noch erfahren), hat uns den Umgang mit dem Thema in allen Bereichen wesentlich erleichtert!
Eine einjährige Reittherapie hat ebenfalls dazu beigetragen, die Blockaden zu mindern. Aktuell haben wir die logopädische Therapie beendet und starten in Kürze eine neue Therapie bei einem Kinderpsychologen.

Wie reagieren Freunde und Bekannte, wenn Dein Kind nicht spricht?

Zu Anfang war es gar nicht so einfach, die Problematik zu erklären – selbst in der Familie! Gerade die ältere Generation hat das Nicht-Sprechen und das damit in Zusammenhang stehende Verhalten oft als unerzogen, trotzig, wiederborstig usw. empfunden und auch so betitelt.
„Mutismus? Neumodischer Schnickschnack!“ Auch heute passiert es noch ab und an, dass ein Nicht-sprechen-WOLLEN unterstellt wird…

Der Klassenlehrer meiner Tochter und auch die zuständige Sonderpädagogin sind zum Glück super offen und engagiert (ein riesengroßes Dankeschön dafür an dieser Stelle!) und begleiten uns sogar in ihrer Freizeit zur TU Dortmund, wo wir uns regelmäßig am „Runden Tisch“ zusammensetzen, den Stand der Dinge besprechen und uns Input für den Umgang im Alltag und die Gestaltung der Förderung in Schule und Therapie holen.

Wie verhält sich Deine Tochter in der Schule? Meldet sie sich? Hat sie Freundinnen?

Auch das war ein Entwicklungsprozess… Sie hat sich von Anfang an aktiv am Unterricht beteiligt – entweder nonverbal oder indem sie einer Freundin ins Ohr geflüstert und die es dann laut gesagt hat. Momentan arbeiten wir zudem mit einem Aufnahmegerät, auf das sie – entweder schon Zuhause oder außerhalb des Klassenzimmers – aufspricht, was sie sagen möchte. Das funktioniert z.B. gut im Morgenkreis oder bei Projekten.
Außerdem flüstert sie manchmal schon so laut, dass auch „Nebenstehende“ verstehen können, was sie sagt.
Die Sonderpädagogin nimmt sie manchmal mit einer kleinen Gruppe aus der Klasse heraus, um die Hemmschwelle zu senken und ihr zu zeigen, dass nichts Schlimmes passieren wird, wenn sie vor anderen spricht.
Ich würde mal behaupten wollen, dass meine Tochter durchaus ein beliebtes Mädchen ist! Die anderen Kinder sind zum Großteil eher neugierig und verwundert, dass sie nicht spricht, reagieren aber so gut wie nie negativ, verletzend oder beleidigend darauf. Sie hat eine richtig „dicke“ Freundin, die aber leider nicht in ihrer Grundschule ist und ein paar andere, weniger intensive Freundschaften mit wechselhaftem Kontakt. Mit all diesen Mädchen spricht sie, kennt sie aber bereits aus dem Kindergarten.
 

Und wie reagieren Fremde? Gibt es da häufig Missverständnisse?

Auch hier kommen häufiger mal so Kommentare wie „Du kannst ruhig mit mir sprechen – ich beiße nicht!“ – aber da stehen wir mittlerweile drüber! 😉 Ich erkläre dann nur, dass meine Tochter eben nicht mit jedem spricht und damit ist die Sache für uns erledigt.

Wie kannst du dein Kind am besten unterstützen?

Am allerschwersten ist es ehrlich gesagt, NICHT für das Kind zu sprechen!!! Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, erst abzuwarten, ob meine Tochter reagiert und wenn nicht, versuche ich ihr zumindest eine geflüsterte Antwort zu entlocken, die ich dann laut widergebe. Darüber hinaus ist eine direkte Unterstützung schwierig, da die Problematik ja nur außerhalb der Familie auftaucht.

Was wünscht du dir für dein Kind?

Meine Tochter ist ein intelligentes, aufgewecktes, neugieriges und sehr kreatives Mädchen. Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich merke, wie eingeschränkt sie durch den Mutismus ist. Das macht mich traurig.

In den Foren zum Thema, in denen ich unterwegs bin, gibt es auch einige Heranwachsende und Erwachsene, die an Mutismus leiden. Dort sehe ich, welche Auswirkungen diese Blockade auf den Lebensweg eines Menschen haben kann – sowohl im privaten Bereich, als auch in der Ausbildung/im Arbeitsleben.
Das macht mir Angst.

Ich wünsche mir nichts mehr für meine Tochter, als dass sie den Mutismus so schnell wie möglich überwinden kann – und ihr so ein erfülltes Leben bevorsteht, in dem sie all ihre Möglichkeiten ausschöpfen kann.

Was möchtest du noch unbedingt zu dem Thema sagen?

Leider ist Mutismus vielen immer noch total unbekannt und wird mit Schüchternheit, Trotz, Widerspenstigkeit oder sogar Dummheit verwechselt. Das hat für die Betroffenen schwerwiegende Folgen, denn je eher der Mutismus erkannt wird und je früher mit der Therapie begonnen wird, desto grösser sind die Erfolgschancen!

Ich kann nur jedem, dessen Kind die mutismustypischen Verhaltensmuster zeigt, ans Herz legen, sich an die TU Dortmund zu wenden und Diagnose und Therapie nicht auf die lange Bank zu schieben! Auch wenn man nicht aus Dortmund und näherer Umgebung kommt, wird dort geholfen: es können Therapeuten vor Ort empfohlen oder aber ortsansässige Logopäden gecoacht werden. Außerdem ist es einfach eine riesengroße Erleichterung, kompetente Ansprechpartner an der Seite zu haben!

 

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2 comments

  1. Selektiver Mutismus
    Hallo Katja,
    mein Sohn, jetzt 5 Jahre alt, hat auch selektiven Mutismus. Er macht jetzt seit 2 Jahren Therapie bei einer ent. Logopädin und einem Kindertherapeuten. Kannst du sagen, ab wann sich die ersten „wirklichen“ Forschritte gezeigt haben?
    Grüße Anja

  2. Glückwunsch!
    Hallo Katja, es ist wunderbar, dass deine Tochter den selektiven Mutismus überwunden hat. Sie wurde von dir und dem übrigen Umfeld aber auch fantastisch unterstützt! Vielen Dank für den Hinweis auf die TU Dortmund. Gibt es eine Möglichkeit, dich außerhalb dieses Blogs zu kontaktieren? Ich würde gern noch so einiges zur Therapie nachfragen. Ich arbeite nämlich als Sonderpädagogin in Norddeutschland und habe einen ähnlichen Fall an einer Schule. Eure Erfahrungen können uns vielleicht sehr helfen. Viele liebe Grüße, Sylvia