Ihr Lieben, vor ein paar Tagen wurde die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes veröffentlicht – die Zahlen daraus haben mich umgehauen: Jede Woche sterben in Deutschland zwei Kinder an den Folgen von Gewalt. 2016 wurden 19 Kinder ermordet, davon waren sieben jünger als sechs Jahre. 41 Kinder wurden totgeschlagen, davon 35 jünger als sechs. 65 Kinder kamen durch Fahrlässigkeit zu Tode, 51 waren jünger als sechs. 8 Kinder starben nach Körperverletzungen, 7 davon waren jünger als sechs. 14296 Kinder wurden Opfer von sexuellem Missbrauch, 1702 davon waren noch nicht sechs Jahre alt. Das sind Zahlen, die wütend machen und kaum fassbar sind.
Wir haben über das Thema Gewalt an Kindern mit Cordula Lasner-Tietze, der Geschäftsführerin des Bundesverbandes des Deutschen Kinderschutzbundes gesprochen, wo Betroffene Hilfe finden und was Anzeichen für häusliche Gewalt sein können:
Und wie hat sich Zahl der Kinder, die häusliche Gewalt erleben, in den letzten Jahren verändert?
Wir wissen, dass immer weniger Eltern Gewalt in der Erziehung als richtig ansehen. Noch 1996 waren Eltern – entsprechend der damaligen Rechtslage – zu über 80 Prozent überzeugt, leichte Körperstrafen wie Ohrfeigen seien erlaubt. Heute sind es weniger als die Hälfte. Anderes Beispiel: noch 2005 hielten fast 2 % der Befragten eine Tracht Prügel mit leichten Blutergüssen für in Ordnung. 2016 nur noch 0,1 Prozent. Das haben Studien ergeben. Eine Befragung von 2010 zeigt aber auch, dass zwei bis drei Millionen Kinder- und Jugendliche mindestens einmal in ihrem Leben Formen von Misshandlung durch ihre Eltern erfahren haben. Dass die Gewalt gegen Kinder laut Kriminalstatistik zunimmt ist ein scheinbarer Widerspruch – kann aber unter anderem auch daran liegen, dass mehr zur Anzeige gebracht wird.
Die Dunkelziffer ist bei häuslicher Gewalt oft sehr hoch, weil die betroffenen Kinder schweigen. Warum fällt es Kindern so schwer, sich Hilfe zu holen?
Meistens ,weil sie Angst haben. Angst vor weiterer Gewalt. Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Angst, in ein neues Umfeld zu kommen, das sie nicht kennen, etwa ein Heim. Sie finden oft auch keine Sprache für das Erlebte, können nicht darüber reden, isolieren sich.
Gibt es typische Anzeichen dafür, dass ein Kind Gewalt erlebt – und die mich als Außenstehende stutzig machen sollten?
Natürlich gibt es körperliche Anzeichen wie das blaue Auge. Aber Kinder, die Gewalt erleben, ändern manchmal auch ihr Verhalten. Zum Beispiel, wenn ein ehemals fröhliches Kind sich plötzlich zurückzieht, traurig ist oder wenig ansprechbar. Oder wenn das Kind plötzlich aggressiv wird, viele Konflikte in der Gruppe hat, mit vielem nicht einverstanden ist. Solche Verhaltensänderungen können ein Anzeichen dafür sein, dass es ein Problem in der Familie oder im Umfeld gibt.
Wie gehe ich vor, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Kind in einer befreundeten Familie /Nachbarsfamilie nicht gut behandelt wird?
Das hängt stark davon ab, in welcher Beziehung man zu der betroffenen Familie steht. Hat man ein Vertrauensverhältnis, kann man auch so ein schwieriges Thema behutsam und klar ansprechen und seine Unterstützung anbieten. Hat man kaum Kontakt zu der Familie kann man die Situation unter Umständen auch verschlimmern. Da sollte man sich nicht überschätzen. Möglich ist auch, sich anonym an eine Beratungsstelle zu wenden, seine Sorgen schildern und sich dazu beraten zu lassen: was kann ich in so einer Situation tun? Und wo sind meine Grenzen der Hilfe? Und das erstmal, ohne die Namen der Betreffenden oder seinen eigenen preiszugeben.
Wie kann betroffenen Kindern geholfen werden?
Es gibt Beratungsstellen und Jugendämter, an die man sich wenden kann. Der Deutsche Kinderschutzbund setzt sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche einen uneingeschränkten Beratungsanspruch haben – und das auch ohne Wissen ihrer Eltern. Bei unserer Beratungshotline Nummer gegen Kummer sitzen erfahrene Experten, an die sich betroffene Kinder frühzeitig und vertraulich wenden können und Hilfe und Gehör finden.
"Ein Klaps auf den Po hat noch niemand geschadet" – diesen Satz hört man gar nicht so selten. Was sagt der Deutsche Kinderschutzbund dazu?
Da muss man etwas vorsichtig sein. Wer das sagt, handelt nicht immer danach. Dieser Satz ist althergebracht, viele haben ihn von ihren Eltern übernommen. Die Gesellschaft und das Denken haben sich aber inzwischen verändert, und die meisten Menschen wissen, dass Gewalt in der Erziehung nicht mehr akzeptiert wird.
Sind Kinder, die zu Hause Gewalt erlebt haben, selbst eher gewaltbereit?
Das ist eine weit verbreitete These, aber nur zum Teil richtig. Viele Kinder haben Gewalt erlebt, aber üben selbst keine aus. Der Grund ist meist: diese Kinder stehen in einem guten Kontakt zu sich selbst. Weil ihre Wahrnehmung bestätigt, ihren Berichten Glauben geschenkt und ihnen geholfen wurde. Dadurch lernen sie, sich auf ihre Wahrnehmung zu verlassen, sich selbst zu vertrauen, und an ihre Fähigkeiten zu glauben. Das hilft Kindern sehr, ihr Leben positiv zu gestalten.
Wer massive Gewalt erlebt, aber diese positiven Erfahrungen nicht gemacht hat – also niemand hatte, der ihm geglaubt oder geholfen hat, das zu verarbeiten – tut sich entsprechend schwerer. Positive Lebenserfahrungen bleiben eher aus. Bei bekannten Todesfällen von Kindern findet man genau diesen Hintergrund. Die Gewalt wird dann weitergeben.
Foto: Susanne Tessa Müller, DKSB