Ihr Lieben, ADHS ist ein Thema, das Eltern heute zwangsläufig begegnet. Nicht selten wird bei lauten, zappeligen Kinder, die voller Energie stecken, schnell ADHS vermutet. Wir wollten wissen, was genau ADHS ist, wie man das Störungsbild erkennt und wie man es behandeln kann. Dr. Myriam Bea arbeitet bei ADHS-Deutschland, dort finden Betroffene Hilfe und Rat. Wir haben mit der Expertin über ADHS gesprochen:
Beginnen wir mal provokativ: Wenn ein Kind früher nicht still sitzen konnte, war es eben ein kleiner Zappelphilipp und man hat es mit einem Fußball auf den Hof geschickt, um sich auszutoben. Heute wird schnell ADHS vermutet. Ist ADHS eine Modekrankheit?
Die ADHS selbst ist keine Modekrankheit, es gibt das Störungsbild bereits seit Jahrzehnten. Im Brennpunkt der öffentlichen Wahrnehmung ist allerdings seit einigen Jahren die Diagnose. Wir sehen die Zunahme der Diagnosen vor allem als eine normale Folge der wissenschaftlichen Kenntnisse über das Störungsbild sowie der therapeutischen Möglichkeiten. Aber wir wissen auch von Fällen, in denen Kinder vorschnell und nicht leitliniengerecht diagnostiziert werden.
Was schätzen Sie, wie viele Kinder von ADHS betroffen sind?
Schätzungsweise 5 %
Was sind die typischen Anzeichen bei Kindern für ADHS?
Anzeichen können sein:
›› leichte Ablenkbarkeit
›› Tagträumerei
›› mangelndes Durchhaltevermögen
›› Kritikempfindlichkeit
›› extreme Vergesslichkeit
›› Impulsivität mit spontanem Handeln ohne vorheriges Nachdenken
›› mangelnde Selbststeuerungsfähigkeit
›› niedrige Frustrationstoleranz
›› Schwierigkeiten planvoll zu handeln und sich selbst zu organisieren
›› Antriebslosigkeit
›› Zappeligkeit
›› Ungeschicklichkeit in Grob-/Feinmotorik
›› falsche Kraftdosierung
Was sind die Ursachen für ADHS?
ADHS ist eine neurobiologische Störung, die mit einer Veränderung der Botenstoffe einhergeht. Hier sind besonders die Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin betroffen.Mit wissenschaftlichen Untersuchungen (Kernspintomographie, SPECT und PET) konnte nachgewiesen werden, dass Menschen mit ADHS neurochemische und neurobiologische Besonderheiten aufweisen.
So fand man heraus, dass in den vorderen Hirnabschnitten bei ADHS weniger Blutzucker verbraucht und auch das Gehirn weniger durchblutet wird. Weiterhin konnte man eine Erhöhung der Dopamintransporter finden und eine genetische Veränderung im Dopamintransportergen, was beides einen schnelleren Abbau von Dopamin im Gehirn zur Folge hat. Auch zeigte sich eine geringere Aktivierung der rechten vorderen Hirnregion.
Außerdem gibt es sogenannte protektive Faktoren, die den Verlauf der ADHS positiv beeinflussen können. Hierzu gehört ein verständnisvolles und liebevolles, aber klar strukturiertes Elternhaus, in dem eine konsequente und berechenbare Erziehung erfolgt.
Hierzu gehört weiterhin eine frühzeitige Diagnosestellung mit einer störungsspezifischen Behandlung, Verständnis und Unterstützung. Hilfreich ist es weiterhin, wenn dem Kind spezielle Hilfen wie Nachhilfe, besondere Förderung seiner Interessen und Neigungen und diverse Sportangebote zur Verfügung gestellt werden können.
Die Möglichkeiten von räumlicher Distanzierung durch große Wohnungen, ausreichender Bewegung und schulische wie auch emotionale Unterstützung durch die Eltern darf nicht unterschätzt werden.
Was sollte ich tun, wenn ich ADHS bei meinem Kind vermute? Sollte ich in jedem Fall zum Arzt?
Wenn das Kind „auffällig“ ist, Schwierigkeiten im Kindergarten, Schule oder im Umgang mit anderen Kindern hat und dadurch ein Leidensdruck für das Kind und / oder die Familie entsteht und die Eltern das Gefühl haben, dass es „ein Problem gibt“, sollte man dies auf jeden Fall beim Kinderarzt thematisieren. Auffälliges Verhalten kann viele Ursachen haben und eine fachkundige Abklärung und ggfs. frühzeitige Hilfe sind in jedem Fall von Vorteil.
In welchen Situationen halten Sie die Einnahme Ritalin für sinnvoll?
Es gibt verschiedene medikamentöse Therapien bei einer ADHS-Behandlung, es muss sich nicht notwendigerweise um ein Methylphenidatpräparat handeln. Der Schweregrad der ADHS bestimmt, ob die Verordnung eines Medikamentes angebracht ist, die Symptomatik entscheidet, welches Medikament am sinnvollsten ist.
Ist es so, dass Ritalin süchtig macht, man es ein Leben lang nehmen muss?
Methylphenidat macht bei bestimmungsgemäßen Gebrauch nicht süchtig. Es gibt Kinder, die nie ein Medikament im Rahmen der Therapie nehmen, manche für kurze Zeit, manche aber auch über die Kindheit hinaus in das Erwachsenenalter, das ist individuell sehr unterschiedlich.
Sie arbeiten bei ADHS-Deutschland, das ist ein gemeinnütziger Verein, der ADHS-Betroffenen hilft. Wie genau sieht diese Hilfe aus?
ADHS Deutschland e.V. ist bundesweit organisiert in Landesgruppen und über 250 regionalen Selbsthilfegruppen, welche als Anlaufstellen für Rat suchende Eltern sowie erwachsene Betroffene und deren Angehörige dienen. Jeder kann unsere Gruppen besuchen, eine Mitgliedschaft ist nicht Voraussetzung.
Wir unterhalten einen Internet- und Intranetauftritt , in dem umfassend über ADHS, Begleitstörungen und andere relevante Themen berichtet wird
Wir sind außerdem mit einem bundesweiten Netz von speziell geschulten Telefonberatungsstellen ständig für Hilfesuchende erreichbar
Es gibt die Möglichkeit zum E-Mail-Austausch einschließlich eines ADHS Jugendberaterteams im Alter von 14-21 Jahren.
Wir organisieren Fortbildungen, arbeiten in Netwerken mit und pflegen Kontakte zu anderen nationalen und internationalen Organisationen mit vergleichbarer Zielsetzung zur koordinierten Wahrnehmung der Interessen, insbesondere auf politischer Ebene. Zurzeit arbeiten wir bei der Erstellung der neuen S3-Leitlinie mit.
Welche Vorurteile können Sie gegenüber ADHS-Patienten nicht mehr hören?
Die Aussage bei betroffenen Kindern und Erwachsenen: „man solle sich nicht so anstellen, mit ein bisschen mehr Mühe klappt das schon" und bei betroffenen Kindern den Eltern Erziehungsversagen unterstellt wird.
Kann ADHS eigentlich "geheilt" werden?
ADHS ist nicht heilbar. Der Betroffene kann aber lernen, unter für ihn besseren Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Diese Chance sollte so früh wie möglich ergriffen werden, so dass die positiven Seiten und Begabungen, die in jedem ADHS-Betroffenen stecken, gezielt gefördert werden können.
—–ZUM WEITERLESEN:
– Wann ist ein Kind hochsensibel?
– Wann ist ein Kind hochbegabt?
3 comments
Experten
Ich denke nicht, dass sich in Bezug auf die AD(H)S Diagnostik in den vergangenen 15 Jahren Wesentliches geändert hat.
Wird AD(H)S vermutet, dann wird mir „Erziehungsratschlägen“ und Medikation gearbeitet, die meisten „Experten“ haben keine Ahnung welche interdisziplinäre Abklärungen erfolgen müssten, um zu klären, ob hinter den Symptomen nicht eine handfeste Diagnose steckt.
Die sind nicht mal in der Lage selbst veranlasste Tests wie den Hawik hinreichend auszuwerten.
Ergibt ein Test z.B.: Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf ADHS, dann sind die Wenigsten in der Lage dem Test an sich klare Hinweise auf andere Ursachen zu entnehmen und zur weiteren Diagnostik an die entsprechenden Fachärzte zu überweisen.
Danke
Das Interview ist sehr spannend! Toll dsss ihr solche Themen aufgreife
http://www.zickleinundboeckchen.de
Was für ein tolles Interview!
Ich erlebe es in meiner Praxis als Sozialpädagogik und Erzieherin leider auch immer wieder, dass Laien bei Auffälligkeiten den ADHS-STEMPEL rausholen und das Kind damit gezeichnet ist! Und natürlich sind immer die Eltern schuld – endogene Faktoren werden völlig ausgeklammert.
Ich hoffe, dir Gesellschaft schafft hier einen Perspektivwechsel! Den Familien wäre es zu wünschen.
Liebe Grüße
Lotti