Gastbeitrag von Jana: Ist Stress nur eine Erscheinung unserer Müttergeneration?

damals

Neulich las ich online einen Artikel, in dem sich die Autorin Kathrin Spoerr wunderte, dass ihre Oma viel mehr gearbeitet habe und viel weniger technische Unterstützung hatte als die Mütter von heute, dennoch sei sie deutlich zufriedener und weniger gestresst gewesen. Deswegen als erstes die Frage: Würdest du gerne mit deiner Oma das Leben tauschen? – Ich nicht!

Ihren Verlobten verlor sie an den Krieg

Nun ja, wenn es der Oma dieser Frau tatsächlich so gut ergangen ist dann: Herzlichen Glückwunsch! Aber dass es ihrer ganzen Generation von Müttern auch so ging, wage ich zu bezweifeln. Meine Oma Charlotte ist 1921 geboren, also drei Jahre nach dem 1. Weltkrieg. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie noch nicht ganz 18. Ihre Lehre in einer Bank musste sie abbrechen, stattdessen wurde sie in ein Lazarett geschickt, um Verwundete zu versorgen. Ihren ersten Verlobten verlor sie an den Krieg, ihr Ehemann war ebenfalls im Krieg gewesen, gemeinsam bekamen sie zehn Kinder, das letzte starb bei der Geburt und dazwischen kam es zu Fehlgeburten.

Das Leben meiner Großmutter war geprägt von Krieg, Flucht, Heimatsuche, Armut, Arbeit und Kirche. Ihr Mann arbeitete schließlich als Berufsschullehrer, weswegen meistens genug zu essen und auch immer ein Dach über dem Kopf vorhanden waren, dennoch gab es von nichts zu viel. Es ging immer darum weiterzuleben, der Bibel zu folgen und die Kinder groß zu bekommen. All dies wird immer als großer Druck auf meiner Oma gelastet haben, genauso wie auf vielen anderen Frauen ihrer Generation und auch der Generationen danach. Was ist der Druck, weitermachen zu müssen um zu überleben, anderes als Stress?

Die Frauen hatten keine Wahl

Es gab keine Wahl, die Aufgabe der Frau war klar definiert und sie war schwierig und belastend. Doch Jammern war nicht angesagt, schließlich hatte “man” zufrieden zu sein, denn “man” hatte überlebt und nun galt es die Kinder aufzuziehen. Bei neun Kindern eine Mammutaufgabe und das ein oder andere ging dabei schief, tatsächlich wurde sogar einmal der Geburtstag eines der Kinder vergessen, es gab einfach mehr zu tun, als frau schaffen konnte. Welches anderes Wort als “Stress” kann so etwas erklären?

Und trotzdem suggerierte meine Oma ihrer Umgebung immer: “Ich bin zufrieden.” Zumindest solange sie ihre Kinder versorgte und ihren Ehemann. Doch ich vermute, dass etwas anderes für meine Oma auch gar nicht in Frage kam. Verglichen mit dem Leben ihrer eigenen Mutter hatte sie einfach zufrieden zu sein, denn sie hatte ja ein viel einfacheres Leben als diese gehabt.

Freundschaften pflegen? Hatte sie nicht gelernt

Als schließlich die Kinder aus dem Haus waren und etwas Geld und Zeit übrig blieben, um sich einen schönen Lebensabend zu machen, verstarb ihr Mann. Damals war sie gerade Mitte 60 und fit genug, um allein oder mit Freundinnen oder einem neuen Partner einen neuen Lebensabschnitt zu gestalten. Doch das tat sie nicht, sie lebte relativ ereignislos vor sich hin und irgendwann konnte sie nicht mal mehr in ihrem Glauben noch Trost und Zufriedenheit finden. Denn die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse nach Freundschaft, Liebe, Nähe, Erlebnis oder was auch immer eigenverantwortlich zu stillen, war ihr nicht mitgegeben worden.

Ihr Leben hatte sie zu einem großen Teil für das Leben ihrer Kinder und für den Glauben gegeben, doch beide konnten sich nicht genug revanchieren. Mir kommt es so vor, als wäre es damals einfach nicht in Ordnung gewesen etwas zum Selbstzweck oder "nur" zum eigenen Wohlbefinden zu tun. Alles musste etwas Größerem dienen: Gott, der Familie, der Gesellschaft, aber nicht sich selbst. Ganz bestimmt erging es nicht allen Frauen so und ganz bestimmt konnten viele Frauen in der Generation meiner Großmütter sehr gut für sich selbst sorgen und sich entwickeln, aber vielleicht verstanden sie darunter auch viel weniger, als wir heute. Schließlich hatten sie ja durch die Kriege auch immer den “worst case” vor Augen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es im Grunde dauerhaft bergauf, alles wurde immer “besser” oder auch leichter, deswegen war Zufriedenheit einfach.

Was treibt uns heute an?

Und heute? Wir sind so satt und so reich und so sicher, wie kaum eine Generation vor uns. Besonders wir Frauen sind Nutznießer der Frauenbewegungen vor uns und können es uns leisten “alles” zu wollen: Familie, Beruf, Selbstverwirklichung. Und viele Frauen tun dies auch und dabei wollen sie so erfolgreich wie möglich sein. Doch kann es mit dem Wohlstand unserer Gesellschaft überhaupt noch weiter bergauf gehen? – Vielleicht nicht. Ängstigen wir uns deswegen vor einem Bergab? Was treibt uns so sehr an? Was bringt uns dazu, niemals abzuschalten, immer etwas “vorzuhaben”, es immer noch etwas effizienter oder sauberer zu machen?

Ich glaube, es ist der Mangel an Mangel. Denn selbst wenn wir auf der untersten Einkommensstufe stehen, Sozialleistungen beziehen oder uns mühsam mit Minijobs durchbringen: Nur sehr wenige Familien in Deutschland müssen um ihr Leben fürchten, etwas wofür viele Menschen vor uns immer gekämpft haben. Und wir? Wir können anscheinend nicht aufhören zu kämpfen, müssen immer weiter, immer schneller, immer besser, doch wohin bloß? Wenn ein bestimmtes Level an Lebensgrundlage erreicht ist: Arbeit, Wohnung, Nahrung, dann kann das Glück nur noch von innen kommen. Doch dafür braucht es Ruhe, Besinnung und Zeit, davon haben wir in der Regel zu wenig.

Wir haben Entscheidungsfreiheit

Und hier kommt etwas ins Spiel, dass ich als den ganz großen Unterschied zu unseren Großmüttern empfinde: Entscheidungsfreiheit. Wir besitzen wie kaum eine Frauengeneration vor uns die Macht, selbst zu entscheiden, wie unser Leben aussehen soll. Wir sind in Wahrheit nur sehr wenig äußeren Zwängen unterworfen oder aus welchem wichtigen Geheimbund werden wir ausgeschlossen, wenn der Flur nicht perfekt dekoriert ist, die letzte Facebooknachricht nicht gleich beantwortet wurde oder das Weihnachtsessen nicht aus dem Katalog gesprungen zu sein scheint?

Auch auf die Gefahr hin, spätestens jetzt von einer Horde gestresster Mütter (und vielleicht auch Väter) geshitstormed zu werden: Die “Lösung” zieht gerade in Deutschland ein. Ja, ich meine die vielen geflüchteten Menschen, die bei uns Sicherheit, Arbeit und Nahrung erbitten, die hier eine neue Heimat finden wollen. Diese Menschen haben ähnlich wie unsere Großmütter den “worst case” am eigenen Leib erfahren und davon könnten wir profitieren, indem wir hinsehen, teilen und helfen, denn damit helfen wir zuletzt auch uns selbst, mit innerer Zufriedenheit.

Foto: Pixabay

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3 comments

  1. Liebe Jana,

    Liebe Jana,
    Dein Beitrag hat mich sehr berührt. Vielen Dank dafür.
    Als ich ich meine Uroma ( wohlgemerkt 93 Jahre) neulich fragte, wie sie mit 2 Kindern den oft stressigen Alltag gemeistert hat, sagte sie nur: „Die Medien machen euch junge Frauen heute verrückt. Das hatten wir früher nicht. Wir waren zufrieden, wenn wir unseren Alltag einigermaßen geschafft haben. Viel Zeit blieb da nicht.“
    Mich hat diese Aussage betroffen gemacht, aber auch reflektieren lassen. Sicher ist es so, dass wir durch die Medien immer neue Impulse bekommen, die es so früher nicht gab.
    Aber ich glaube, dass unsere Großmütter ähnlich gestresst waren, wie wir es heute sind. Nur mit dem Unterschied, dass man darüber nicht sprach.

  2. Danke!
    Deinen Beitrag finde ich sehr gelungen und ich stimme dir in allermeisten Punkten zu. Sollte nun ein „Shitstörmchen“ auf dich zukommen, dann in dem Wissen zumindest einen Leser positiv angesprochen zu haben.
    Vielen Dank dafür!

  3. So isses
    Liebe Jana,
    danke für deinen Beitrag und deine ehrlichen Worte. Genauso wie du habe ich beim Lesen des Artikels gedacht. Meine Omas, die beide noch leben, haben als Kind bzw. Jugendliche den zweiten Weltkrieg durchgemacht. Meine Oma väterlichseits war verheiratet, bekam die Meldung, dass ihr Mann gefallen ist und sie verliebte sich in meinen Opa. Kurz vor der Hochzeit und schwanger mit ihrem ersten Kind stand 1947 ihr erster Mann vor der Tür. Noch heute erzählt sie mir die Geschichte und auch wie sie vertrieben worden und wie sie fünf Kinder bekam und es gab kaum was zu essen. Meiner anderen Oma ging es etwas besser, aber sie musste auf dem Hof meines Opas hart arbeiten und mit anpacken. Sie durfte nicht jammern oder klagen. Neulich erzählte sie mir die Geschichte, als sie das erste Mal meinen Opa besuchte. Da stellte ihre zukünftige Schwiegermutter alle kaputten Socken der Familie hin und das Flickzeug. Meine Oma musste nun alle Socken stopfen. Und sie tat es, denn mit 20 gab frau früher keine Widerworte. Damit wurde geprüft, ob sie arbeiten konnte und in die Familie passte. Stelle dir das mal heute vor. Ich hätte gelacht und die Socken zurückgeschoben und dem Teufel getan, diese zu flicken.

    Beide Frauen sehe ich als sehr starke und tapfere Frauen an, aber sie haben nie gelernt für sich da zu sein und auf sich selber Acht zu geben oder das zu machen, was sie wollten.
    Ich bin sehr glücklich, dass ich heute lebe und all diese Möglichkeiten haben. Klar überfordert mich oft das Überangebot und all die Dinge, die ich wählen darf. Aber ich darf wählen, meine Kinder haben genug zu essen und dürfen entspannt spielen und lachen. All das sehe ich als etwas ganz Besonders und freue mich darüber.
    Und das wir die Chance haben, anderen zu helfen und für andere da zu sein. Wir haben genug, dass es für so viele reicht und wir sind jetzt diejenigen, die etwas ändern können.