Schwer behindert nach Behandlungsfehler: Ich will Gerechtigkeit für Paul

Behandlungsfehler

Ihr Lieben, wir haben hier schon drei mal über Jill und ihren Sohn Paul berichtet. Paul hatte eine seltene Stoffwechselstörung, die in der Geburtsklinik nicht rechtzeitig erkannt wurde. Durch den Behandlungsfehler erlitt Paul einen irreparablen Hirnschaden, der ihn zu 100 Prozent mehrfach schwer behindert machte. Paul konnte nicht reden, nicht selbstständig essen, nicht sitzen oder nach etwas greifen (HIER das erste Interview). Im September 2019 ist Paul mit 18 Jahren gestorben, ein paar Monate später erzählte uns Jill, wie es ihr nach Pauls Tod geht, wie groß die Lücke ist, die er hinterlässt (HIER das zweite Interview). 

Im Mai 2022 sprachen wir erneut mit Jill darüber, wie es ihr geht und sie sagte, dass sie nicht glaube, dass sie Zeit ihre Wunden heilen könne (Hier nachzulesen). Obwohl es bereits 2011 ein Urteil gegen die Ärzte gab, hat Jill bis heute kein Geld erhalten, weshalb Jill weiterhin um ihr Recht kämpfen muss.

Durch die jahrelange Pflege von Paul konnte Jill nicht mehr in ihrem Job in der Gastronomie arbeiten, hat daher keine finanziellen Rücklagen. Obwohl Jill mehrere Jobs hat, reichen die finanziellen Mittel nicht mehr, um den Prozess weiter zuführen. Zudem hat sie durch die Pflege einen Nervenschaden erlitten, was alles noch verschlimmert.

Doch Jill will nicht aufgeben und hat daher eine Spendenaktion gestartet, um den gerichtlichen Prozess abschließen zu können. Wer also helfen kann und mag, findet HIER den Link zur Spendenseite. Jill ist für jeden Euro dankbar und erzählt gibt uns hier nochmal Einblick in ihr Leben.

Liebe Jill, Dein Sohn Paul ist im September 2019 verstorben, bei unserem letzten Interview im Mai 2022 hast du gesagt, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Siehst du das heute, 1,5 Jahre später auch noch so? 

Ein Kind zu verlieren ist meiner Meinung nach nicht vergleichbar damit, nahe Angehörige oder den Lebenspartner zu verlieren. Die Reihenfolge ist einfach falsch, wenn das Kind vor den Eltern verstirbt. Der Verlust eines Kindes nach langer Pflege oder auch Krankheit ist auch nochmal anders. Wenn das eigene Kind stirbt zerstört das Hoffnungen, Träume für die Zukunft und zwingt einen, sich einem Ereignis zu stellen, das man keinesfalls bereit ist anzunehmen.

Es belastet die ganzen Familie, auch wenn jeder anders trauert und das nicht nur für eine kurze Zeit. Also ja: Ich sehe es immer noch so, die Wunde heilt nicht. Es verändert sich aber der Schmerz, die Trauer bleibt an manchen Tagen erträglicher als an anderen. 

Du hast noch einen Sohn. Wie geht es euch beiden im Moment?

Ich denke, meinem Sohn geht es besser. Er möchte nicht darüber reden. Ich weiss aber, dass er denkt, dass es seinem Bruder jetzt besser geht und dass er es schön hat – wo auch immer er jetzt ist.  Mein Sohn hat einen sehr guten Freund, der immer für ihn da ist und war. Er weiss auch, dass er immer mit seinem Vater oder mir oder einem Therapeuten reden kann, wenn er es möchte. Kinder trauern anders  und ich denke, er hat seinen Weg gefunden. 

Bei mir ist etwas anders. Ich funktioniere an vielen Tagen nur und habe gelernt, meine Gefühle zu verstecken. Wenn ich alleine bin, kommen oft die Tränen und die Frage: Was hätte ich besser oder anders machen können, um das zu verhindern. Für meinen Sohn möchte ich „stark“ sein, das gelingt mal mehr mal weniger. 

Der Prozess um Paul ist immer noch nicht beendet. Kannst du bitte nochmal erklären, wegen was ihr vor Gericht seid?

Ich habe 9 Jahre lang einen Prozess für Paul geführt und 2011 für ihn gewonnen. Pauls Behinderung resultierte aus einem Behandlungsfehler und dieser war vermeidbar. In dem jetzigen Prozess geht um die Durchsetzung der Ansprüche, die im Urteil stehen und bislang nicht gezahlt wurden. 

Was würde dir es bedeuten, wenn dieser Prozess endlich zu Ende ist? 

Unser Anwalt sagt immer: Vor Gericht gibt es Recht, aber keine Gerechtigkeit. Aber tatsächlich ist es das was ich möchte: Gerechtigkeit und Anerkennung für das, was wir all die Jahre geleistet haben. Ich möchte gesehen zu werden, dass man nach so einem Behandlungsfehler eben nicht mehr nur Mutter sein kann, sondern Pflegerin, Krankenschwester, Sekretärin, Diätassistentin, Betreuerin, Fahrdienst, Krankengymnastin usw. Die Menschen, die den Behandlungsfehler verursacht haben, führen weiterhin ein normales Leben.

Aber für uns ändert sich alles. Ehen und Partnerschaften zerbrechen an der Belastung, man muss um jedes Hilfsmittel und jede zusätzliche Behandlung kämpfen, es gibt kaum noch Raum für Hobbys, Freizeit und Sozialkontakte. Viele pflegende Eltern leben am Existenzminimum, weil sie ihre Arbeit aufgeben müssen – bei Alleinerziehenden ist das ganz schlimm. Dazu kommt immer die Angst um das Kind und das Gefühl, nicht genug zu tun, genug zu leisten und die Sorge: Was ist, wenn ich mal nicht mehr da bin.

Ich habe schon oft überlegt, ob ich den Prozess weiterführen soll, weil ich keine Kraft mehr habe und einfach nur noch meine Ruhe haben will, aber ich bin es Paul einfach schuldig, ich muss diesen Weg zu Ende gehen. Und ich kann und möchte die Gegenseite nicht damit durchkommen lassen, nur weil sie den längeren „Atem“ haben oder vielleicht die besseren Anwälte oder mehr Geld. Wer Fehler macht, muss dafür gerade stehen, das muss ich doch auch. Ich wünsche mir Gerechtigkeit, um abschließen zu können. Ich denke, danach kann Heilung einsetzen. Ich hoffe, danach kann Heilung einsetzen. 

Was wünschst du dir für die nächsten Jahre? 

Ruhe, einfach nur Ruhe. Ich möchte wieder Jill sein. Nicht die Mutter mit dem behinderten Kind und jetzt die Mutter mit dem toten Kind. Ich möchte mal wieder lachen ohne schlechtes Gewissen. Ich möchte wieder die Ruhr, um etwas Schönes zu nähen, ein Buch zu lesen oder einen langen Waldspaziergang zu machen.

Ich wünsche mir, dass meine Nervenschädigung verschwindet und ich vielleicht wieder in meinem Beruf arbeiten kann und keine 4 Jobs mehr machen muss. Ich möchte wieder unbeschwerte Zeit mit meinem Sohn verbringen.

Und ich wünsche mir, dass ich nicht mehr so viel Schmerz in mir habe, dass ich an Paul denken kann, ohne traurig zu sein. Dass ich nicht nur traurig bin, dass er weg ist, sondern auch froh darüber bin, dass er so lange bei uns war.


Wer spenden kann und mag, kann das unter diesem Link tun. Wir danken euch für eure Hilfe!

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