Ihr Lieben, in Deutschland gibt es fast alle drei Minuten einen Fall von häuslicher Gewalt. Das ergab eine Studie des Bundeskriminalamtes, die kürzlich vorgestellt wurde. Carmen ist auch in einem Haushalt voller Gewalt aufgewachsen. Erst als sie 12 Jahre alt war, trennte sich ihre Mutter vom Vater. Ihre Geschichte erzählt sie hier.
Liebe Carmen, du hast als Kind häusliche Gewalt erlebt… an euch Kindern und an deiner Mutter. In was für einem Umfeld bist du aufgewachsen?
Ich bin in Berlin groß geworden. Mein Vater hat bei der Post gearbeitet, meine Mutter war Krankenschwester. Ich habe noch eine Schwester mit Behinderung. Wir haben in einer Vier-Zimmer-Wohnung gelebt.
Wann hast du das erste Mal diese Gewalt mitbekommen?
Ich denke, ich war etwa sechs Jahre alt, als ich es das erste Mal bewusst wahrgenommen habe. Mein Vater hat regelmäßig Ohrfeigen verteilt, er hat uns rumgeschubst, Beine gestellt, damit wir hinfielen. Es gab auch ständig Sprüche wie „Ihr könnt ja so oder so nix, ihr seid alle dämlich.“ Wer nicht pünktlich am Tisch, saß, bekam kein Essen. Wer beim Essen zappelte, musste auf dem Klo essen. Eigentlich war es egal, was wir oder meine Mama gemacht haben – es war immer falsch. Er war sehr unzufrieden mit sich selbst und hat das auf uns projiziert.
Was hat deinen Vater richtig in Rage gebracht.
Sogenannter Ungehorsam – was aber nur bedeutete, dass es nicht so lief, wie er es für richtig gehalten hat. Oder bei „Diskussionen“ – was hieß, wenn wir gesprochen haben, obwohl wir nicht gefragt worden sind. Es gab mal eine Situation, ich war vielleicht 8 oder 9 Jahre alt und hab am Vormittag heimlich Fernsehen geschaut. Mein Vater hatte aber eine Kamera aufgestellt und fragte beim Abendessen, ob jemand Fernsehen geschaut hatte. Als ich verneinte, flog ich richtig durch die Wohnung.
Was hast du gemacht, wenn dein Vater deine Mutter angegriffen hat?
Wenn es zu doll wurde, wollte ich meine Mama schützen. Aber tatsächlich hab ich lange als Kind geglaubt, die Gewalt sei normal, das sei in Familien so.
Konntest du dich irgendjemandem anvertrauen?
Ich habe nie etwas gesagt. Mein Vater hat uns eingetrichtert, dass wir alle sterben, wenn wir was erzählen und dass Geheimnisse Geheimnisse bleiben. Nach außen hin war auch alles schick, Schläge und Bestrafung gab es immer erst, wenn wir zu Hause waren. Wenn ich mal wieder blaue Flecken hatte, hab ich in der Schule einfach erzählt, ich sei gestürzt.
Dann gab es einen Vorfall, bei dem die Polizei kommen musste. Erzähl mal.
Bei uns musste öfter mal die Polizei kommen. Dieser spezielle Vorfall war im Winter, ich war etwa 12 Jahre alt. Meine Mama war arbeiten, mein Vater wieder mal mit seinen Saufkumpels unterwegs. Mein Onkel passte auf meine Schwester und mich auf.
Meine Mama kam um 22.30 Uhr von der Arbeit nach Hause, mein Vater war noch nicht da. Wir Kinder waren schon im Bett. Als mein Onkel gerade gehen wollte, kam mein Vater nach Hause. Es begann ein Streit, es wurde so laut in der Wohnung, dass ich aufstand und zu meinen Eltern ging.
Mein Vater hat sich plötzlich ein Messer genommen und ist auf meine Mutter los. Ich habe mich dazwischen gestellt. Es waren schlimme Szenen und mein Onkel hat die Polizei gerufen. Die Polizei brachte uns ins Frauenhaus und wir sind nicht mehr zurück zu meinem Vater.
Wie ist dein Verhältnis zu deinen Eltern heute?
Zu meiner Mama sehr gut, sie ist immer für mich da. Wobei sie sich immer Vorwürfe macht, warum sie sich nicht früher getrennt hat.
Tja, zu meinem Vater… Ich habe meinen Vater irgendwie lange geliebt, obwohl er uns all das angetan hat. Als es nach unserem Auszug wegen Unterhaltszahlungen vor Gericht ging, hat er uns dort verhöhnt und ist dann tatsächlich lieber ins Gefängnis als uns Geld zu geben.
Mein Vater ist dann im Alter von 60 Jahren verstorben. Auch wenn es sich sehr unschön anhört: Für mich war es das beste Weihnachtsgeschenk, denn jetzt ist endlich Ruhe. Wir hatten seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr, er hat nie seine Enkel kennengelernt und trotzdem fühle ich erst diese Ruhe, seit er tot ist.
Wie haben deine Erfahrungen deine Partnerwahl und deine Elternschaft beeinflusst?
Ich war 15 Jahre in einer Beziehung, lebe aber gerade in Trennung. Ich habe Probleme, Nähe zuzulassen, generell überwiegt mein Misstrauen und ich fühle mich schnell angegriffen. Meine beiden Kinder erziehe ich natürlich absolut gewaltfrei.
Wenn du heute auf deine Kindheit zurück blickst – was hast du dadurch gelernt und was hast du durch die Gewalt nie erleben dürfen?
Ich habe gelernt, dass Blut nicht dicker als Wasser ist, dass die eigene Unzufriedenheit sehr viel kaputt macht, dass Alkohol sehr viel zerstört.
Was ich nie erlebt habe? Wirklich zu vertrauen und wie es ist, einen liebevollen Vater zu haben. Ein ruhiges, sicheres zu Hause. Bis heute mag ich Weihnachten nicht, weil es da bei uns meistens hoch herging…
Meine Mutter hat all die Jahre versucht, uns gut großzuziehen, sie hat versucht, uns die richtigen Werte zu vermitteln. Ich bin sehr stolz auf meine Mama, dass sie das unter diesen Umstände hinbekommen hat. Sie hat mich trotz allem zu einem guten Menschen gemacht.