Kontaktabbruch: Wenn erwachsene Kinder überliebt oder unterliebt werden

Kontaktabbruch

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Ihr Lieben, ein Kontaktabbruch innerhalb der Familie passiert heutzutage gar nicht so selten, es scheint ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema zu sein, weil wir es mit zwei Generationen zu tun haben, die anders ticken, weil sie so unterschiedlich aufgewachsen sind. So erzählt es Claudia Haarmann, 73, die das Buch Kontaktabbruch: Der Schmerz verlassener Eltern zum Thema geschrieben hat und sich derzeit vor Interviewfragen kaum retten kann.

Schwerpunkt ihrer Arbeit als als Heilpraktikerin für Psychotherapie sind die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. Sie berät heute Eltern und erwachsene Töchter und Söhne, die sich mit familiären Kontaktabbrüchen auseinandersetzen.

Kontaktabbruch: Wie geht es Eltern, deren Kind sie verlässt?

Als ich bei Instagram fragte, was euch am Thema interessieren würde, kam als Erstes die Frage, ob so ein Kontaktabbruch auch erleichternd sein könne. Die Frage gab ich am Telefon gleich an Frau Haarmann weiter und sie meinte, dass es für die Kinder sehr erleichternd sein können, wenn sie dadurch dem Druck der Familie, den hohen Anforderungen und der vielleicht jahrelangen Sprachlosigkeit entfliehen könnten.

Es sei übrigens selten, dass Eltern den Kontakt abbrächen. Das passiere oft nur dann, wenn die dann schon erwachsenen Kinder nicht so funktionierten wie die Eltern das von ihnen erwarteten oder sehr selten, wenn es um Erbschaften und Geldstreitigkeiten gehe. Der größte Teil der Kontaktabbrüche ginge aber von den erwachsenen Kindern aus.

Wichtig: In Claudia Haarmanns Buch geht es nicht um Kontaktabbrüche nach offensichtlicher Misshandlung oder Missbrauch, sondern um Abbrüche nach weniger sichtbaren, emotionalen Verletzungen, die von außen vielleicht nicht bemerkt werden und deswegen für das Umfeld zum Teil plötzlich kommen.

Kontaktabbruch
Claudia Haarmann. Foto: Thekla Ehling

Liebe Frau Haarmann, wir würden Sie den Schmerz beschreiben, mit dem Eltern nach dem Kontaktabbruch ihres Kindes zu Ihnen kommen?

Die Eltern – und wir sprechen hier von Eltern aus den Jahrgängen 40/50/60/70er Jahre sind in der Regel erstmal wahnsinnig geschockt und in tiefem Schmerz. Sie fühlen sich absolut ohnmächtig, weil sie nichts tun können. Denn viele Kinder, die die Tür einmal zugemacht haben, halten diese auch erstmal zu.

Man muss ja sehen: Die betroffenen Eltern gehen Richtung Ende des Lebens, sie haben viel für die Kinder getan, ihren Alltag jahrelang nach ihnen ausgerichtet und sie lieben ihre Kinder, so gut wie es können. Das bricht dann alles zusammen, das kann bis zu depressiven Episoden gehen.

Viele Eltern in meinen Beratungen fangen dann mit „Ja, aber“-Diskussionen an. „Ja, aber, das war doch gar nicht so.“ „Ja, aber ich hab doch alles getan.“ „Ja, aber ich hab doch mein Bestes gegeben.“ Die Botschaft dieser Aussagen bedeutet für die Kinder: Sie hören mir wieder gar nicht richtig zu, sondern rechtfertigen sich. Ich rate den Eltern, damit aufzuhören und anzufangen, den Kindern zuzuhören ohne Wenn und Aber, wenn sie die Chance dazu nochmal haben.

Haben die meisten Eltern eh damit gerechnet, dass sich ihr Kind irgendwann abwendet oder konnten sie sich so etwas nie vorstellen?

Für die Eltern kommt das oft plötzlich. Viele können es nicht fassen, beginnen, zu grübeln, suchen nach Ereignissen, die das ausgelöst haben könnten. Anders ist es bei den Kindern, so ein Kontaktabbruch hat für sie meist einen langen Vorlauf, manchmal jahrelang. Sie haben schon lange so eine dumpfe Sprachlosigkeit in der Familie empfunden, kennen das Gefühl, was sagen zu wollen, aber es landet nicht.

Ein „Hör mir doch mal zu, weißt du überhaupt, wer ich bin und was ich fühle?!“ Die Eltern gehen aber darüber hinweg, weil es für sie schwierig ist, über Emotionen zu sprechen. Sie haben das vermutlich in ihrer eigenen Nachkriegskindheit schlichtweg nicht gelernt.

In Ihrem Buch „Der Schmerz der verlassenen Eltern, Kontaktabbruch als emotionales Erbe verstehen“ handelt es sich nicht um den Kontaktabbruch nach Gewalterfahrungen, sondern um ganz „normale“ Familien – um Familien von nebenan… wie oft kommt es da zu den Abbrüchen?

Das kommt mittlerweile tatsächlich so häufig vor, dass in angloamerikanischen Ländern bereits von einer „Stillen Epidemie“ die Rede ist. Die große Zunahme der Kontaktabbrüche kann mit der Unterschiedlichkeit der Generationen zu tun haben. Die jungen Leute haben gelernt, Grenzen zu wahren, für sich einzustehen, Gefühle zuzulassen, zu weinen, zu wüten, sich zu freuen – und: miteinander zu reden. Sie haben Freundschaften und Partnerschaften, in denen das möglich ist – was sie in ihrem Elternhaus aber vermissen. Sie gehen zu Coaches, in Therapien, erleben viel Offenheit in den sozialen Medien.

Wir Alten – und da zähle ich mich als 73Jährige dazu – haben das nicht gelernt. Früher hieß es noch: Ich geh doch nicht zum Irren-Arzt, wenn jemand eine Therapie empfahl. Die Älteren und Alten, manche haben ja sogar noch als Kind den Krieg erlebt, haben so viel Schlimmes erlebt, sie wurden kleigehalten und sollten vor allem funktionieren. Wie oft hieß es da: „Sei still, geh ins Zimmer, sonst gibt´s was hinter die Löffel, sei artig oder du hast hier nichts zu melden“ oder „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen“, usw. Sie mussten sich vor allem anpassen und funktionieren. Das ist ungefähr das Gegenteil von der heutigen Generation. Denn die dürfen und durften reden.

Ist es oft vor allem die Kommunikation, die schiefläuft?

Ich frage die betroffenen Eltern oft, wenn sie vom Kontaktabbruch erzählen, wie sich das, was sie da schildern, für sie anfühlt. Und die meisten antworten mir: „Das kann ich grad gar nicht sagen.“ Sie haben keine Sprache, keine Worte dafür gelernt. Schmerz wird verschlossen. Sie sollten funktionieren, Geld verdienen, stabil bleiben, unauffällig sein und keine Sorge bereiten.

Und dann kommen die erwachsenen Kinder und sagen: Hey, hier ist was nicht okay bei uns. Darüber würde ich gern mal reden: „Warum herrscht hier so eine komische Atmosphäre? Wieso ist das so stressig hier? Magst du mich eigentlich nicht? Warum hörst du mich nicht?“ Und die Eltern haben keine Worte dafür. Es gibt so viele Familien, bei denen so ein Fremdheitsgefühl existiert, wo man sich nicht nahekommt.

Warum gehen Kinder dann irgendwann?

Die einen fühlen sich unterliebt. Da ist keine Nähe möglich, da erinnern sich die erwachsenen Kinder oft nicht einmal auf dem Schoß von Mama oder Papa gesessen zu haben. Und diese Eltern können das nicht, eine betroffene Mutter fragte mich einmal in der Beratung: Was ist das eigentlich – Liebe? Sie hatte von den eigenen Eltern gelernt, zu parieren, hatte aber nie dieses Wärmende zu Hause erlebt.

Die anderen fühlen sich überliebt. Das kommt heute häufiger vor. Da werden die erwachsenen Kinder fast erdrückt von der Zuneigung, es geht um eine Überfürsorge, die den erwachsenen Kindern fast die Luft nimmt. Da rufen die Eltern täglich an, wollen ganz nah sein, wissen immer besser, was zu tun ist und was das Kind braucht, das geht bis zu der Erziehung der Enkel. Das wird dann auf Dauer zu viel.

Liebe bedeutet nicht nur, ich bin dir nah, sondern auch: Ich respektiere deine Autonomie. Dein Wesen. So, wie du bist. Liebe bedeutet: Ich traue dir Dinge zu. Ich schenke dir Freiheit. Junge Erwachsene brauchen Raum und Freiheit, sie müssen erleben können, wie stark und selbstwirksam sie sein können – ohne, dass sich dauernd jemand einmischt, hilft oder einfach alles für sie übernimmt, sie „verhätschelt“, denn das hält einen klein und macht nicht stark.

Interessanterweise kommen Eltern, die überlieben, übrigens aus unterliebten Familiengefügen. Und dann wollen sie alles besser machen und rücken zu nah ran an ihre Kinder, mischen sich zu sehr ein. Die Eltern brauchen das. Und wenn das Kind dann den Kontakt abbricht, geht ihre Welt unter. Das sind die verzweifeltesten Eltern, die vor mir sitzen. Es schlägt ins Gegenteil um wie ein Pendel von dem Mangel ins Zuviel.

Kontaktabbruch
Der Schmerz verlassener Eltern

Wenn das eigene Kind den Kontakt abbricht, schwirren den Eltern vermutlich tausend Fragen durch den Kopf. Wem können sie diese stellen? Wohin damit?

Sie können ihre Fragen in ein Reflexionstagebuch schreiben, sie brauchen Menschen, wer keine FreundInnen hat, kann zum Therapeuten gehen, zur Pfarrerin, in eine Selbsthilfegruppe, sie sollten nicht allein damit bleiben. Hier können sie üben, über Gefühle zu reden, offen zu sein, Kummer anzusprechen, zuzuhören.

Nach einem Kontaktabbruch ist in der Regel sofort ein Schuldgefühl da. Was hab ich falsch gemacht? Was hat meinem Kind gefehlt? Und neben dem Schuldgefühl ist da auch die Scham. Dass es einem nicht gelungen ist, eine gute Beziehung zum Kind zu führen oder zu halten. Meine Aufgabe in der Begleitung ist es dann, den Eltern klarzumachen, dass es nicht um Schuld geht. Wenn sie es hätte besser gekonnt hätten, dann hätten sie es getan.

Sie plädieren eher zur Selbstreflexion der Eltern…

Genau. Mir ist es ein Anliegen, dass die verlassenen Eltern erstmal verstehen, was dazu geführt haben könnte, woher sie überhaupt selbst kommen. Wie bin ich selbst ausgewachsen? Was hab ich über die Liebe gelernt? Und welche Bedeutung hat all das für meine Elternschaft?

Neulich saß ein junger Mann, Jahrgang 80 vor mir, der sagte, er habe mit seinem Vater im Leben vielleicht drei Sätze gesprochen, in denen es um Persönliches ging. Was kann sein Vater erlebt haben, dass es ihm so ging? Dass er keine Worte für seine Gefühle hatte?

Oder lassen Sie mich hier noch das Beispiel einer jungen Frau einbringen. Sie erzählte mir, dass sie sich irgendwann endlich traute, ihren Vater mit seinem autoritären Gehabe zu konfrontieren. Die Mutter – an das jahrlange Unter-den-Teppich-Kehren und Schweigen gewöhnt – ist dabei und sagt: „Oh, mein Gott, Kind, jetzt bricht hier alles auseinander!“

Auch sie wird gelernt haben: Wenn ich die Wahrheit sage, dann wird es schlimm, ich werde dann z.B. nicht mehr geliebt. Ich glaube, dass Themen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und das Vorgelebte und Erlernte wird bei Ereignissen sofort in uns aktiviert.

Die Vorwürfe der Kinder klingen übrigens oft wie die Klagen der Eltern, die diese hätten, ihren eigenen Eltern sagen müssen, aber sie konnten es damals nicht. Da sagt die Tochter über die Mutter: Sie hat mir ja nie zugehört. Und auf die Frage, wie die Mutter das selbst mit ihrer eigenen Mama erlebt hat, kommt dann oft: Die hat mir auch nie zugehört…

Sollten Eltern weiter um die Kinder kämpfen, wenn sie sich abwenden – oder ihnen in diesem Punkt die Entscheidungshoheit lassen und es akzeptieren? Und gibt es auch Fälle, die Sie betreuen, in denen der Kontakt irgendwann wieder aufgenommen wird?

Nicht weiterkämpfen, liebe Eltern! Sie sollten unbedingt akzeptieren, dass ihr Kind hier jetzt eine klare Grenze zieht – und die sollte dann auch geachtet werden. Wenn die Kinder nach dieser Entscheidung dann irgendwann selbst zur Ruhe kommen und Distanz zum Elternhaus aufbauen konnten und ihr eigenes Leben gestalten, kommen sie in den allermeisten Fällen wieder zurück.

Manchmal dauert das ein Jahr oder mehr, kann leider auch 10 Jahre oder länger dauern. Viele verlassene Eltern sagen, sie wüssten gar nicht, wie sie reagieren würden, wenn ihr Kind plötzlich wieder den Kontakt aufnähme, in der Realität ist es dann aber oft ganz einfach und fühlt sich natürlich an. Da wird in der Regel ja nicht direkt über Eingemachte gesprochen, sondern es heißt erstmal: Schön, von dir zu hören.

Die wichtigste Botschaft der Eltern sollte sein: Ich bin da für dich, wenn du mich brauchst, weil du mir wichtig bist. Übrigens: Die Kinder dürfen sich in der Zeit des Kontaktabbruchs auch die Frage stellen, warum ihre Eltern sind wie sie sind.

Auch wenn kein Kontakt da ist: Das Band zwischen Eltern und Kind bleibt ein Leben lang, oder? Auch ein Nicht-Kontakt ist ein intensives Gefühl, oder?

Natürlich! Das Band bleibt. Im Buch schreibe ich über eine junge Journalistin, die sagt: Ich bin ja kein Baum. Ich kann gehen. Ich kann meine Eltern verlassen. Immer, wenn mich Beziehungen zu sehr belasten, kann ich gehen. Aber: Sie hat ja Wurzeln, so wie ein Baum. Und die sind unwiederbringlich da, wir sind mit unseren Eltern und unseren Kindern seelisch, biologisch und genetisch verbunden.

Wir Menschen waren nie einem Menschen so nah wie der eigenen Mutter. Die Beziehung ist keine Freundschaft dennoch sie ist nicht wegwischbar, und es bleibt eine lebenslange Auseinandersetzung. Für alle.

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3 comments

  1. Sehr schöner Artikel und sehr wertschätzend gegenüber allen Beteiligten.
    Zwei Gedanken noch: die späte Kriegsgeneration/frühe Nachkriegsgeneration hat nicht nur nicht gelernt mit Gefühlen umzugehen oder diese zu kommunizieren. Es fällt Ihnen oft auch schwer, sich selbst zu reflektieren, Entschuldigung für die profansten Kleinigkeiten zu sagen.
    Ein: „das tut mir leid“ an mancher Stelle, hätte schon oft geholfen.
    Mir geht es da auch nicht um Schuld.
    Das führt auch gleich zu meinem zweiten Punkt: natürlich denkt man als betroffenes Kind/Erwachsener darüber nach, warum die Eltern so geworden sind. Und man kann auch versuchen dafür Verständnis aufzubringen und entsprechend empathischer zu reagieren. Aber das ist halt sehr rational und ich für mich kann nur sagen, dass mir dieser Ansatz emotional nicht wirklich geholfen hat. Mich hat es noch mehr Energie gekostet, weil man ja all die eigenen Gefühle hat, vielleicht auch Wut Schmerz und Trauer, und dann rational versucht diese zu relativieren. Und das schlechte Gewissen, weil man so empfindet „obwohl die ja auch nichts dafür können, dass sie sind, wie sie sind“ ist zumindest für mich oft eine zusätzliche Belastung. (Wir haben aber auch keinen Kontaktabbruch, vielleicht ist es da anders)

  2. Schade, dass immer nur über Eltern berichtet wird, die von ihren Kindern verlassen werden. Das gibt es ja tatsächlich sehr häufig. Es kann aber auch, wie in meinem Fall, passieren, dass sich die Mutter ohne ersichtlichen Anlass und Erklärung abwendet. Ist für Kinder genauso traumatisch wie für Eltern. Wobei ich als Erklärung anfügen muss, das meine Mutter leider schizophren ist und es wahrscheinlich darauf beruht. Da ich mit der Erkrankung meiner Mutter aber auch schon groß werden musste, macht es die Lage aber auch nicht einfacher. LG, Nadine

  3. 2 Gedanken dazu: Bei Menschen, die in den 1970er Jahren geboren sind, von Nachkriegskindheit zu sprechen, finde ich merkwürdig. Und im Titel ist mir das „überlieben“ aufgestoßen, hieß es doch am Dienstag noch bei Lisa, zu viel Liebe gibt es nicht, nur zu viel Aufmerksamkeit. Im Interview wird es dann auch deutlicher als Gefühl des Erdrücktwerdens beschrieben.
    Ansonsten sehr interessantes Interview!

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