Ihr Lieben, Michelle hat eine starke emotionale Abhängigkeit von einem Mann hinter sich, die insgesamt 9 Jahre andauerte, bis sie sich davon befreien konnte. Der Bruch ist jetzt fünf Jahre her und mittlerweile führt sie ein glückliches Leben. Über ihre Erlebnisse hat sie das Buch Hinter deinem Schatten geschrieben.
Liebe Michelle, als du 15 Jahre alt warst, bist du an den falschen Mann geraten. Wie habt ihr euch damals kennengelernt?
Ich habe mich auf Anraten meiner Therapeutin bei einem Filmprojekt beworben, das Jugendliche porträtiert, die mit Suizidgedanken zu kämpfen haben. Er war der Regisseur und kam dann regelmäßig zu mir, um mit mir an meinem Teil des Films zu drehen. So haben wir uns kennengelernt. Aber auch abseits der Dreharbeiten hielten wir Kontakt. Das verstärkte sich, als mein damaliger Freund sich von mir getrennt hat. Ab da wurden unsere Gespräche im Chat intensiver.
Wir verliefen die ersten Wochen eurer Liebe?
Es war keine Liebe, wir waren damals nicht zusammen – und auch in den folgenden Jahren hat sich über eine Affäre hinaus nie etwas ergeben, er war ja verheiratet. Allerdings hat es sich für mich anders angefühlt, auch zu Beginn schon. Wir hatten sehr viel Kontakt über die sozialen Medien, chatteten jede Nacht. Während dieser Gespräche fragte er mich nach sehr persönlichen Dingen, wollte alles über mein Sexualleben, meine Vorlieben und intimsten Momente wissen.
Alle zwei Wochen kam er mich besuchen. Er kam mir zu der Zeit nie sexuell näher, aber wir lagen oft gemeinsam im Bett. Ich erzählte ihm alles von mir, er gab mir das Gefühl, die Einzige zu sein, die ihm wichtig war, die Einzige, die zählte.
Du bist irgendwann in eine emotionale Abhängigkeit von Alexander geschliddert, verlief das schleichend oder kannst du dich an einen ersten Moment erinnern, in dem du dachtest: Mist, ich komm hier so leicht nicht mehr raus?
Es gab einen Moment, da habe ich gespürt, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Ich hatte schon das Gefühl, dass ich etwas empfinde, das nicht gesund ist, habe es allerdings nicht weiter hinterfragt, ich wollte mir darüber keine Gedanken machen. Rückblickend gab es ganz viele Hinweise und Momente, in denen mir hätte klarwerden müssen, dass meine Gefühle Alexander gegenüber krankhaft sind, aber ich wusste ja selbst noch gar nicht, was eine emotionale Abhängigkeit ist und dass es sie überhaupt gibt.
Erst, als ich zusammengebrochen bin und mein Umfeld den Kontakt zu ihm stark reglementiert hat, erkannte ich, dass ich in einer Situation stecke, die ich allein nicht bewältigen kann. Alexander war es, der mir erklärt hat, was mit mir los ist, aber es hat trotzdem noch lange gedauert, bis ich begriff, dass ich wirklich krank bin.
Hast du das Gefühl, deine Eltern hätten dich da in irgendeiner Weise schützen können?
Ich glaube nicht, dass meine Eltern etwas hätten unternehmen können, um mich vor der Abhängigkeit an sich zu schützen. Sie haben vieles auch überhaupt nicht mitbekommen, ich hielt alles geheim, worüber wir sprachen und habe sie teils auch aktiv belogen. Dass Alexander mich besuchen kommt, habe ich mir nicht verbieten lassen, ich stand mit meinen Eltern auf Kriegsfuß und rebellierte teilweise heftig.
Hinterher allerdings, als all die Geheimnisse aufgeflogen sind, hätten sie mir helfen können und müssen. Ich hätte Gespräche gebraucht, eine Hand, die mich hält und jemanden, der mich mit meinem Schmerz nicht alleine lässt. Stattdessen hat meine Mutter mich völlig allein gelassen. Sie verweigerte alle Gespräche, wollte von alledem nichts hören.
Eure Beziehung wurde dann zur emotionalen Achterbahnfahrt, gab es auch immer wieder Trennungen? Was machten die mit dir?
Wir haben schon, bevor dann unsere Affäre begann, öfter versucht, den Kontakt zueinander abzubrechen, teilweise ging das von mir aus, weil ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte. Aber wir haben es nie geschafft, eine Trennung längerfristig aufrecht zu erhalten. Später dann, als wir Sex miteinander hatten, gingen die kurzfristigen Kontaktabbrüche und die Versuche, die Affäre zu beenden, in der Regel von ihm aus. Er hat häufig auch Ultimaten gestellt und mir gesagt, wie ich mich verhalten muss, damit er sich weiter mit mir trifft.
Das hat mich jedes Mal in Krisen gestürzt, ich lag ganz oft nächtelang wach und habe geweint und ihn angebettelt, mich nicht zu verlassen. Ich konnte ihm nie gerecht werden und habe mich ständig erniedrigt und verbogen, damit er bei mir bleibt, und sei es nur für ein weiteres Treffen. Ich habe mich in Alkohol, Drogen und Selbstverletzungen gestürzt, um mich zu betäuben. Die Bestätigung, die Alexander mir verwehrte, suchte ich in fremden Betten.
Wieso bist du dann trotzdem immer wieder zu ihm hin? In welcher Hoffnung?
Ich wollte nie wirklich zu ihm zurück, ich wollte immer nur, dass es aufhört. Aber ich konnte ihn nicht gehen lassen. Jedes Mal, wenn ich es versucht habe, hatte ich das Gefühl, zu sterben. Nicht nur innerlich, sondern tatsächlich. Ich hatte teilweise auch körperliche Symptome, fast wie bei einem Alkoholentzug.
Ich habe geglaubt, wenn er weg ist, würde ich nicht weiter existieren können. Auf eine paradoxe Art und Weise habe ich… glaube ich… gedacht, mein Leben damit zu retten.
Haben sich in dieser Zeit Freunde und Freundinnen von dir abgewendet – vielleicht auch, weil sie dachten: Selbst schuld, wenn sie immer wieder zurückgeht?
Zu Beginn war ich diejenige, die sich abgewendet hat. Ich habe regelmäßig Einladungen ausgeschlagen, um mit Alexander chatten zu können und habe mein gesamtes Leben außerhalb komplett vernachlässigt.
Meine Freunde wussten aber auch nicht viel über meine Beziehung zu Alexander. Anfangs habe ich mal versucht, mit ihnen darüber zu sprechen, doch je mehr ich auf Unverständnis stieß, desto weniger habe ich mich ihnen gegenüber geöffnet. Sie haben sich eher von mir abgewandt, als mein Alkoholkonsum zunehmend exzessiv geworden ist.
Es war dann ein fast 9 Jahre andauerndes Martyrium, wie hast du es letztlich rausgeschafft aus dieser Beziehung?
Als ich 23 war, stand ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich mich komplett aufgegeben hatte. Ich weiß noch, dass ich an dem Tag schon am Vormittag eine komplette Flasche Wodka getrunken habe. Seitenweise schrieb ich dann in mein Tagebuch: „Du hast mich missbraucht!“, weil ich erst da wirklich geglaubt habe, was mir seit Jahren von allen Seiten erzählt worden war. Hinter mir lag ein grauenvolles Wochenende, an dem Dinge geschehen sind, die mir klargemacht haben, dass ich niemals ein normales Leben würde führen können.
Ich wollte nicht mehr kämpfen, ich wollte nicht mehr stark sein. Ich wollte nicht einmal mehr, dass es aufhört. An diesem Tag habe ich mich komplett aufgegeben und entschieden, nicht mehr zu versuchen, mich gegen die Abhängigkeit und all die gravierenden Folgen davon zu wehren. Ich glaube, das war der Punkt, an dem ich innerlich dazu bereit war, mich von Alexander zu lösen.
Ein paar Tage später habe ich mich selbst in die Psychiatrie einweisen lassen, dort habe ich meinen jetzigen Ehemann kennengelernt. Als es dann ernster wurde zwischen uns, wusste ich, dass ich mich entscheiden muss. Die Beziehung würde scheitern, wenn ich den Kontakt zu Alexander weiterhin aufrechterhalten würde. Obwohl es nicht geplant war, habe ich mich bei einem letzten Treffen dann von ihm getrennt.
Wie geht´s dir heute, wie hast du die Geschehnisse aufgearbeitet und zurück ins Leben gefunden?
Heute geht es mir sehr gut, und ich bin glücklich. Ich lebe zusammen mit meinem Mann und einer kleinen Hündin in einer hübschen Wohnung und spüre das Leben erstmals so, wie es sein sollte. Ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe und weiß, dass das nur möglich war, weil ich mich aus der Abhängigkeit befreit habe.
Ich habe lange Zeit Therapie gemacht und parallel dazu die Geschichte von mir und Alexander aufgeschrieben, so ist es mir in großen Teilen gelungen, Abstand davon zu finden. Dennoch habe ich viele Momente nicht verarbeitet und einiges von dem, was geschehen ist und was er mich hat glauben lassen –über Männer, Beziehungen und über mich selbst – wirkt sich bis heute auf mich und mein Leben aus. An manchen Tagen fällt es mir noch immer schwer, an manchen Tagen tut es immer noch weh. Aber nach inzwischen fünf Jahren ist alles viel leichter geworden.