Ihr Lieben, im Teenage Blues fragen sich viele Eltern: Ist das noch Pubertät oder schon eine gewisse Form der Depression? Wenn Teenager länger antriebslos und schwermütig sind, sich zurückziehen oder Schlafprobleme haben, kann das auf eine depressive Verstimmung hinweisen, die zum Teil auch mit Essstörungen, Suizid-Gedanken, übermäßigem Social-Media-Konsum, Mobbing oder selbstverletzendem Verhalten einhergehen kann.
Basierend auf ihrer Arbeit als systemische Familientherapeutin teilt Melanie Hubermann in ihrem Buch Teenage Blues ihre Erfahrungen über Ängste, Einsamkeit oder Überforderung als Auslöser für depressive Verstimmungen bei Jugendlichen. Sie erklärt, wie Eltern erkennen, ob ihr Kind einfach die Pubertät durchlebt oder ob es fachliche Hilfe braucht, und wie sie diese finden. Aber auch, wie sie als »Leuchtturmeltern« Orientierung und Halt geben können. Mit zahlreichen Tools und Tipps aus ihrer therapeutischen Praxis für Familienleben, Schulalltag, Therapien und Ärzte.
Liebe Frau Hubermann, bis wann sind Depriphasen bei Jugendlichen im Teenage Blues noch normal und eher unbedenklich und ab wann sollten wir als Eltern handeln?
Leider ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Ein bisschen durchhängen, schlechte Laune und mürrisches Antworten sind typische Verhaltensweisen in der Pubertät. Diese Verhaltensweisen sind sogar wichtig, denn mit ihrer Hilfe beginnt die entwicklungsbedingte Abnabelung.
Wenn aber zum Beispiel mindestens zwei Symptome wie u.a., drückende Stimmung in einem ungewöhnlichen Ausmaß oder ein Interessenverlust an Aktivitäten, die zuvor Spaß gemacht haben oder Symptome wie ein schlechtes Selbstbild, keine Zukunftsperspektiven zu haben, auffällige Veränderungen in Schlaf und Essgewohnheiten über einen längeren Zeitraum (mindestens zwei Wochen) den Alltag des Jugendlichen überschatten, können diese ein alarmierendes Signal für Eltern sein.
Nun können wir von Eltern kein diagnostisches Fachwissen erwarten. Aber Eltern besitzen besonders wertvolles Fachwissen über ihre Kinder. Viele Eltern liegen mit ihrem Bauchgefühl „Mit meinem Kind stimmt etwas nicht“, oft richtig. Deshalb ermutige ich Eltern, auf ihr Bauchgefühl zu hören und ihre Kinder auf wahrgenommene Veränderungen im Verhalten und ihre Sorgen anzusprechen. Und sich dann auch Rat und Unterstützung bei Fachleuten zu holen.
Wenn Teenager länger antriebslos und schwermütig sind, sich zurückziehen oder Schlafprobleme haben, kann das auf eine depressive Verstimmung hinweisen, muss aber nicht, oder?
Klar, Antriebslosigkeit, Schwermut und Schlafprobleme können allein genommen als typisches Symptom der Pubertät betrachtet werden. Im Zusammenhang mit Pubertät erleben die Jugendlichen diese Symptome nicht unbedingt als belastend. Das merken wir schon daran, dass sie oftmals Gespräche oder Hilfsangebote ablehnen – also typisch pubertär sind.
Jugendliche mit einer depressiven Verstimmung, zeigen oft noch andere Symptome wie zum Beispiel nicht enden wollende Gedankenspiralen, Frustration oder Perspektivlosigkeit. Im Gespräch sprechen manche von ihnen über ihre Gefühle wie Hoffnungslosigkeit und „leeren Batterien“, heißt bleierner Müdigkeit. Angesprochen auf eine mögliche depressive Verstimmung reagieren diese Jugendlichen oft erleichtert, weil sie sich in ihrer Not gesehen fühlen und dankbar für Unterstützung sind.
Wie kommt es dazu, dass gerade viele Jugendliche in depressive Phasen rutschen?
Die Pubertät ist schon eine sehr herausfordernde Entwicklungsphase. Der Körper, die Hormone, das eigene Erleben und Denken verändert sich radikal. Der Körper ist in seinen Innen- und Außenwahrnehmungen im Dauerstress. Die Welt, die als Kind sicher und behütet galt, zeigt sich mit neuen Facetten, Abenteuern und unbekannten Regeln und Strukturen. Die sichere Welt des Kindes verwandelt sich zunehmend in eine unberechenbare, grenzenlose Welt, in der auch sichere Bindungen nicht mehr garantiert sind. Das macht Jugendliche auch für mentale Krisen anfälliger. Diese neue Welt lädt zu aufregenden, neuen Abenteuern ein kann aber auch überfordernd werden. In dieser Zeit brauchen Jugendliche – trotz des altersbedingten Abnabelungsprozess, Eltern die wie Leuchttürme, präsent und fest im Leben stehen und Orientierung geben.
Ängste, Einsamkeit oder Überforderung gelten als Auslöser für depressive Verstimmungen bei Jugendlichen. Wie können wir dem entgegenwirken?
Reden, reden, reden! Im Gespräch bleiben, sich mit den eigenen Ängsten und Sorgen beim Kind zeigen und Erfahrungen und Lösungswege austauschen.
Viele Eltern möchten ihren Kindern in der Pubertät viel Raum zur freien Entfaltung geben. Manchmal lassen sie ihre Kinder mit diesem gut gemeinten Schritt zu früh los und lassen sie ungewollt in schwierigen Situationen allein. Deshalb ist ein regelmäßiges Check-in unglaublich wichtig. Hier wird die Eltern-Kind-Beziehung altersentsprechend gepflegt. Jugendliche mit Angst, Einsamkeit bzw. einer depressiven Verstimmung ziehen sich stark zurück. Regelmäßige Beziehungsangebote helfen aus der Einsamkeit herauszukommen.
Wie kann ich als Mutter oder Vater auf solche Phasen reagieren? Sollten wir ein komisches Bauchgefühl direkt ansprechen?
Unbedingt. Viele Jugendliche denken, dass ihre Eltern sich nicht mehr für sie interessieren. Wenn ich das von außen betrachtet, bin ich oft überrascht, woher dieser Eindruck kommt. Aber nun haben wir es neben einer depressiven Verstimmung auch immer mit der Pubertät zu tun. Jugendliche beschäftigen sich nun mal hauptsächlich mit sich selbst und sehen eher selten darauf, wie es ihrem Umfeld geht oder was sie brauchen.
Daher glauben sie oft, keiner will mich mehr. Das Bauchgefühl ansprechen ist auch immer ein Signal für: „Ich sehe dich, du bist mir wichtig. Ich interessiere mich für dich, weil ich dich liebe.“ Und genau danach sehnt sich jeder Jugendliche.
Essstörungen, Suizid-Gedanken, übermäßiger Social-Media-Konsum, Mobbing oder selbstverletzendes Verhalten können Folgen der depressiven Verstimmung sein. Gibt es noch weitere?
Bei diesen Symptomen stellt sich eher die Frage, was davon war zuerst da? War da erst eine Essstörung und dann die Depression oder sogar umgekehrt? Meine Tochter zieht sich immer mehr zurück und entwickelt aus ihrer Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit heraus noch eine Essstörung? Zieht mein Sohn sich hinter dem Computer zurück, weil er depressiv ist oder leidet er unter einer depressiven Verstimmung, weil er einfach zu lange in der virtuellen Welt unterwegs ist? Ähnlich erleben wir diese Fragen auch bei Jugendlichen mit einer Lernschwäche, AD(H)S oder Hochbegabung. Frustration, fehlende Erfolgserlebnisse, negative Rückmeldungen beeinflussen Wut und Angst und können dann das Ergebnis einer depressiven Verstimmung sein. In welcher Form kann dann vielfältig sein.
Welche Fälle häufen sich in Ihrer Arbeit als Familientherapeutin derzeit sehr?
Ich habe den Eindruck, dass viele Fälle ein Ergebnis der Pandemie sind.
Viele Jugendliche, Eltern und auch Lehrkräfte beschreiben Schulangst, hohen Leistungsdruck und große soziale Probleme zwischen den Kindern.
Ich höre in den Therapien viel von Mobbingerfahrungen, dass Schule zu viel und anstrengend ist. Selbstverletzungen und Schuldistanz sind ein großes Thema sowie Wutausbrüche die Eltern hilflos machen.
Ihnen ist es wichtig, zu vermitteln, dass Eltern da nicht allein durchmüssen, dass auch Eltern in dieser Zeit Selbstfürsorge großschreiben dürfen und sich ein Helfernetz suchen sollten…
Oh ja, ich bin davon überzeugt, die Natur hat es nicht vorgesehen, dass wir Kinder allein großziehen sollten. In der Vergangenheit ist die Großfamilie eingesprungen und hat geholfen. In der heutigen individualisierten Gesellschaft haben Eltern die Freiheit sich ganz kreativ eigene Dörfer zusammenzustellen. Hier dürfen wir neu denken! Schule kann ein wichtiger Teil im Helfernetzwerk sein sowie die Familienärztin, Freunde oder der Nachbar. Kinder großzuziehen kann viel Spaß machen aber auch richtig anstrengend sein.
Und eine Depression fordert immer wieder die Beziehung zwischen Teenagern und Eltern heraus. Dabei geht es um Beharrlichkeit, etwas, das Eltern benötigen, um im Kontakt mit ihren Teenagern zu bleiben. Eine sichere Bindung zu den Eltern gibt Halt. Starke Eltern zeigen ihren Kindern sicher den Weg durch ruhige wie unruhige Zeiten.
Und um die eigene Kraft und Klarheit, nicht nur in Krisenzeiten, zu erhalten, also das eigene starke Fundament zu sichern, benötigt der Leuchtturm Selbstfürsorge und ein verlässliches Helfernetzwerk von anderen Leuchttürmen aus der Gemeinschaft.