Ich bin ein Pflegekind – wie das mein Leben bis heute prägt

Pflegekind

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Ihr Lieben, wenn ein Kind nicht in der Ursprungsfamilie aufwachsen kann und zum Pflegekind wird, ist es enorm wichtig, wie gut die Pflegefamilie ist. Die meisten Pflegefamilien nehmen die Kinder mit großer Liebe und Fürsorge auf, aber natürlich gibt es auch Familien, in denen die Pflegekinder leiden. Unsere Leserin Madeleine ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen, ebenso wie ihre beiden Schwestern. Wie das das Leben aller drei Mädchen beeinflusst hat, erzählt sie hier.

Liebe Madeleine, du bist bei Pflegeeltern aufgewachsen. Was weißt du über die Umstände, warum du nicht bei deinen leiblichen Eltern bleiben konntest und was weißt du generell über deine leiblichen Eltern?

Meine Mutter erkrankte in der Schwangerschaft mit mir oder meiner kleinen Schwester an einer schweren Psychose und hat leider nie Heilung erfahren dürfen. Meine Schwester und ich sind nur 13 Monate auseinander, noch mal 13 Monate später kam nochmal ein Kind. Dieses Geschwisterkind ist sofort in eine Pflegefamilie gekommen. 

Welche medizinische Hilfe meine Mutter überhaupt und zu welchem Zeitpunkt bekommen hat, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber, dass es vor der Inobhutnahme von mir und meiner Schwester eine Familienhilfe gab. Mit dieser hatten wir als Kinder auch immer mal wieder Kontakt, auch als wie schon in Pflegefamilien gelebt haben. Dieser Familienhilfe durften wir auch Fragen stellen, eine Geschichte zu meiner leiblichen Familie ist mir dabei sehr im Gedächtnis geblieben. Uns wurde erzählt, dass wir damals wohl überwiegend das gehgegessen haben, was unter den Tisch gefallen war.

Wie schrecklich…

Ja, meine Pflegeeltern haben uns dazu gesagt, dass wir in der ersten Zeit bei ihnen nicht aufhören wollten zu essen. Glücklicherweise haben wir aber rasch ein normales Sättigungsgefühl entwickelt. 

Generell war meine leibliche Mutter war einfach in allen alltäglichen Dingen für sich selbst und in der Fürsorge für uns erst recht überfordert. Mein Vater war alkoholkrank. Meine Pflegeeltern haben erzählt, dass er Besuchstermine oft nicht eingehalten hat oder gar betrunken erschien, weshalb sie die Besuche zu unterbinden versuchten und er in der Folge des Alkoholmissbrauchs das Besuchsrecht per Beschluss verlor. 

Wie würdest du deine Kindheit in dieser Pflegefamilie beschreiben?

Meine Pflegeeltern haben meine kleine Schwester und mich gleichzeitig aufgenommen (zuerst als Bereitschaftspflege gedacht und dann dauerhaft) und ein sehr geordnetes, stabiles Aufwachsen ermöglicht. Es gab liebevolle Zuwendung, Rituale und Bildung waren wichtig. Wir wurden sehr gefördert. Es gab aber auch (für alle Kinder) viel autoritäre Strenge, wir wurden oft niedergemacht und manchmal auch geschlagen. Meine Pflegemutter war auch oft überfordert, so schätze ich es im Nachhinein ein, da ich seit 5 Jahren selbst Mutter bin und es daher besser nachvollziehen kann.

Ich weiß, dass es meine Pflegemutter selbst in ihrer Kindheit alles andere als leicht hatte. Um die Anonymität zu waren, kann ich darauf nicht näher eingehen. 

Hast du dich als Pflegekind in der Familie voll akzeptiert gefühlt?

Es gab ja ein leibliches Kind in dieser Familie und bis zur Pubertät haben meine leibliche kleine Schwester und ich uns da keine Gedanken darüber gemacht, ob zwischen uns Unterschiede gemacht werden. Unsere Eltern haben auch zwischendurch davon berichtet, dass Verwandte es verantwortungslos dem eigenen Kind gegenüber fänden, Pflegekinder aufzunehmen. „Blut ist dicker als Wasser,“ das fiel immer wieder. Von diesen Konflikten bekamen wir schon mit.

Irgendwann beschlich uns zudem das Gefühl, dass z.B. Geschenke der Verwandtschaft bei uns Pflegekindern kleiner ausfielen und später wurden Geschenke, die immer Tradition in der Familie waren, auch gar nicht gemacht. Glasklar mit der Begründung, dass wir nicht als verwandte Kinder angesehen würden. Das war nicht schön, aber wir trösteten uns damit, dass unsere Pflegeeltern auch Konflikte austrugen, um für uns einzustehen.

Je älter wir wurden, desto klarer wurde uns allerdings, dass es doch Unterschiede in der Zuwendung gab unter den Geschwistern. Wenn das leibliche Kind sich ohne Weiteres regelmäßig das Auto leihen konnte und man selbst es dann aber als Gegenleistung ausgesaugt und geputzt wiedergeben muss, kann man die Augen davor nicht mehr verschließen. Dies ist ein Beispiel von vielen. Es gab auch hin und wieder die Aussage, man könne nicht jedes Kind gleich lieben. Dieser Satz steht für sich, denke ich…

Im Erwachsenenalter sind wir von unseren Pflegeeltern adoptiert worden und dies war von uns allen der Wunsch.

Siehst du deine Pflegeeltern als deine Eltern an?

Ich spreche über meine Pflegealtern immer von meinen Eltern. Sie sind nun mal die einzigen Eltern, die ich habe. Meine leibliche Mutter hat mich ja kaum großgezogen, ich habe keine Eltern-Kind-Beziehung zu ihr. Wir nehmen an allen Familienevents der Adoptivfamilie teil, alle legen darauf großen Wert und es ist eigentlich ganz natürlich. Und für mein eigenes Kind sind sie auch gute Großeltern.

Mit meiner Adoptivschwester habe ich heute ein gutes Verhältnis, ich würde sagen freundschaftlich distanziert, aber nicht innig. Früher war es sehr schwierig zwischen uns und ich freue mich über die heutige Situation.

Du hast ja noch eine Schwester, die allerdings sofort nach der Geburt in eine Pflegefamilie kam. Wie hat diese Familie ihr Leben beeinflusst?

Sie ist großgeworden mit dem Wissen und der ständigen Bestätigung, dass sie „nur“ das Pflegekind ist. Materiell stand sie ganz offen ziemlich hinten an. Sie aufzunehmen war ein christliches Projekt und generell war es in dieser Familie sehr wichtig, wie die Gemeinde über sie dachte. Innerhalb der Familie gab es große Probleme, die unter den Teppich gekehrt wurden. Der Schein musste gewahrt werden. 

Meine Pflegeeltern wollten den Kontakt fördern, aber das war nicht immer einfach, weil es auch für sie Konflikte mit dieser Familie gab. Wir wurden nicht mit diesen vermeintlich christlichen Werten erzogen und dies galt als Makel. Meine Schwester, die in dieser Familie lebte, hat gegen diese allgegenwärtige Doppelmoral rebelliert, indem sie sich sehr früh in sexuelle Beziehungen und viele Partys inklusive Alkoholexzesse stürzte. Es folgten Schulabbruch, Heimaufenthalte, immer Beziehungen zu viel älteren Männern, die selbst nicht in der Lage waren ein eigenständiges Leben zu führen. Noch minderjährig wurde sie das erste Mal Mutter….

Du hattest, als du etwas älter warst, Kontakt zu deinen leiblichen Eltern. Wie war das für dich?

Genau, kurz vor Beginn meiner Pubertät gab es nochmal Kontakt zu meinen leiblichen Eltern. Mein Vater hat gestunken und gezittert, weil er einen zu geringen Alkoholpegel hatte. Er hat große Sprüche geklopft, worauf er bei uns Kindern stolz sei, welche Eigenschaften wir von ihm geerbt hätten usw. Ich fand das damals schon sehr befremdlich und habe mich geekelt und geschämt.

Meine Mutter wirkte teilnahmslos und ausgemergelt. Es entsprach absolut dem Krankheitsbild der affektiven Psychose, wie ich später gelernt habe. Für sie habe ich damals nur Mitleid empfunden. Ich war allerdings vor dem Treffen gut durch das Jugendamt und meine Pflegeeltern vorbereitet worden, das Verhalten meiner leiblichen Eltern überraschte mich also nicht.

Was würdest du sagen, welche Auswirkungen hat es bis heute auf dein Leben, dass du in einer Pflegefamilie groß geworden bist?

Ich habe eine gute Ausbildung erhalten und bin sehr gut in der Lage für mich selbst zu sorgen. Das ist nicht selbstverständlich bei meiner Geschichte. Ich bin dankbar, dass ich diese Chance hatte. Ich war sehr früh sehr eigenständig, es gab im Teenageralter viele Konflikte in der Familie und deshalb bin ich mit gerade 18 ausgezogen.

Insgesamt lässt mich die Erfahrungen als Baby und Kleinkind in der Herkunftsfamilie verlassen zu sein, zu hungern und allein zu sein, nicht los. Hinzu kommt ein großes Misstrauen gegenüber Bezugspersonen, ob sie wirklich das meinen, was sie sagen. Denn meine Pflegeeltern haben lange versucht, den Anschein zu erwecken, dass es keinen Unterschied zwischen uns Kindern gebe. Der Zweifel kam irgendwann auf und nagte an mir. Es führte zu großer Verunsicherung. Die Gewissheit im Erwachsenenalter durch die klaren Aussagen meiner Eltern diesbezüglich haben mich dann darin bestärkt, meinen Gefühlen, meiner Wahrnehmung doch zu vertrauen. Es ist vielleicht traurig, aber wahr. Es hilft nix, sich einzureden und zu hoffen, dass man genauso geliebt wird wie alle anderen. 

Nun hast du selbst eine Familie. Was möchtest du deinem Kinde unbedingt mit ins Leben geben?

Ich habe einen 5-jährigen Sohn. Ich möchte, dass er sich bedingungslos geliebt fühlt. Dass er immer weiß, dass er mit allem zu uns Eltern kommen kann. Ich möchte der sichere Hafen für mein Kind sein. Unumstößlich. Ein Urvertrauen ermöglichen, wie ich es nicht kenne. Er soll später gut für sich selbst sorgen können und dabei zufrieden sein können.

Mein Sohn war ein Highneed Baby und ist äußerst sensibel. Er braucht unglaublich viel Nähe. Das möchte ich ihm auch gerne geben. Deshalb habe ich mich schon kurz nach der Geburt entschieden, kein weiteres Kind zu bekommen. Ich würde ihm und auch mir nicht gerecht, da es mich sehr fordert. Der ursprüngliche Plan zwei leibliche Kinder und ein Kind anzunehmen, ist geplatzt. Ich habe mich damit versöhnt, weil es mir wichtiger erscheint, diesem einen Kind gut gerecht zu werden – ohne mich selbst dabei zu verlieren in der ganzen Fürsorge. 

Was wünscht du dir für deine Zukunft?

Mehr Gelassenheit für meine Mutterschaft. Ich habe aber den Verdacht, dass es allen anderen Müttern ähnlich geht und dies gar nicht mit meiner besonderen Geschichte zu tun hat 🙂

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5 comments

  1. Liebe Madeleine ,
    vielen Dank für diesen Artikel!
    Schön zu sehen , wie das Pflegeverhältnis gelingen kann.

    Ein bisschen hängen geblieben bin ich bei der Beschreibung der Ungleichbehandlung bzw. der nagenden Zweifel und des Bewusstseins , nicht das leibliche Kind zu sein. Da bin ich mir nicht so ganz sicher , ob es das Verhalten der Pflegeeltern war oder das eigene Gefühl.

    Wir haben drei leibliche Kinder und ein Pflegekind, das mittlerweile so richtig dazugehört und nicht wegzudenken ist.
    Ich habe auch viel Kontakt zu anderen Pflegeeltern.
    Die meisten erzählen mir, dass das Gefühl des Zerrissenseins und ein Kind zweiter Klasse zu sein, leider oft in den Pflegekindern drin liegt.
    Als Pflegeeltern versuchen wir alles, damit sich unser Pflegesohn als Sohn fühlt.
    Aber die Gedanken , woher wir kommen, woher wir welche Anlagen haben usw., ob wir genug geliebt sind, haben alle Menschen .
    Ich denke, die furchtbaren Umstände , die zum Sorgerechtsentzug geführt haben, hinterlassen bei allen Pflegekindern ein gestörtes Urvertrauen.

    Umso schöner , dass du deinem Sohn Halt geben kannst.
    Alles Gute für euch!

    1. Naja, ob das tatsächlich die Ursache ist, wage ich zu bezweifeln. Ich denke, dass eher das offensichtliche Ungleichgewicht schon allein in Bezug auf die Anzahl der leiblichen und der Pflege- oder Adoptivkinder ein maßgeblicher Punkt ist!
      In Familien, in denen z.B. eigene ungewollte Kinderlosigkeit zu einer Pflegschaft oder Adoption führen, ist das Gefühl eigentlich nie zu finden.

  2. Liebe Madeleine,

    aus den zugleich traurigen und schönen Zeilen liest man sehr deutlich, wieviel Herz, Reflexionsfähigkeit und Stärke in Dir steckt!
    Dein Sohn kann sich sehr glücklich mit Dir schätzen…Alles Gute für die nächsten Jahre und ‚Danke‘ für das Teilen Deiner Erfahrungen.

  3. Liebe Madeleine. Dein Beitrag hat mich sehr bewegt. Ich selbst denke manchmal darüber nach, wenn die eigenen Kinder etwas älter sind evtl. einem Pflegekind ein liebevolles Zuhause zu geben. Doch diese Geschichte zeigt mir wieder, wie schwer das doch ist. Ich denke man muss sich das wirklich gut überlegen obwohl auf der anderen Seite die Not natürlich groß ist und Pflegefamilien dringend gesucht werden. Alles Gute für dich und deine Familie!

  4. Liebe Madeleine,
    ich finde du bist eine großartige Frau!

    Deine Geschichte hat mich tief berührt und deine Entscheidung für deinen Sohn und gegen deinen ursprünglichen Plan ebenso!! Ich glaube auch, dass viele andere Mütter sich insgeheim mehr Gelassenheit wünschen, dies aber einfach nicht zugeben. Häufig folgen dann sogar weitere Kinder bis das ganze System zusammenbricht.

    Du bist eine sehr starke und sehr großherzige Frau!

    All das Wissen über die Herkunfts- aber auch über deine Adoptivfamilie auszuhalten, ist unglaublich schwer. Weiterhin jedoch damit zu leben, die Großelternschaft für deinen Sohn sowie die Familienevents anzunehmen, ist mindestens ebenso schwer. Ich kenne diesen tiefen Wunsch nach Zusammengehörigkeit, Dazuzugehören, Familie. Achte aber unbedingt auch auf dich und lass es nur so, wenn das Schöne überwiegt.

    Es ist so ungerecht, was manche Menschen aushalten müsse!!

    Man sieht aber an deiner eigenen Familienplanung wieviel reflektierter und genügsamer uns das werden lässt – vielleicht ist das auch ein großer Gewinn!?!
    Ich wünsche dir von Herzen alles Liebe für die Zukunft!
    Isabelle

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