Im Zweifel gegen das Kind: Kinderrechte mit Füßen treten

Im Zweifel gegen das Kind

Foto: pixabay

Ihr Lieben, wisst ihr, wie viele Paare sich jährlich vor Gericht streiten, weil sie sich getrennt haben und sich beim Sorgerecht nicht einig werden? Es sind 200.000. Nun stellt euch mal vor, wie viele Kinder betroffen sind. Die Kinderschutz-Expertin Sonja Howard und die Journalistin Jessica Reitzig schauen sich das besorgt an und finden, dass Familiengerichte, Jugendämter und Polizei die Kinderrechte immer öfter mit Füßen treten – indem sie die Kleinsten zum Beispiel per Gerichtsbeschluss von der Hauptbezugsperson trennen. In ihrem Buch Im Zweifel gegen das Kind berichten sie in acht Erlebnisberichten von Eltern geballt über das Schicksal dieser Kinder.

Ihr Lieben, ihr sagt, dass Gerichte, Jugendämter und Polizei Kinderrechte mit Füßen treten, wie meint ihr das genau? 

Jessica Reitzig: In jeder dritten Familie leben heute Kinder, deren Eltern getrennt sind. Diese Kinder sitzen machtlos mittendrin im Gefühlschaos und fragen sich: Wann bin ich bei Papa? Wie oft sehe ich Mama? Was früher selbstverständlich war, macht plötzlich Bauchschmerzen, denn immerzu gibt es Stress. Das belegen weitere Zahlen, denn in mehr als 200.000 Fällen pro Jahr ziehen Eltern vor Gericht, weil sie sich ums Sorgerecht für ihre Kinder streiten.

Mehr als 4000 Mal eskaliert die Situation derart, dass ein Elternteil die Herausgabe der Kinder per Gerichtsbeschluss zu erzwingen versucht. Zur Durchsetzung wird immer öfter sogar die Polizei auf den Plan gerufen. Dass der Staat Gewalt gegen Kinder einsetzt, weil der Umgang nach einer Trennung nicht klappt, ist schon lange kein Einzelfall mehr in Deutschland. Und viel zu oft zählt der Wille, den etliche der betroffenen Kinder klar äußern, dann nicht.

Ihr prangert vor allem an, dass Kindern in Scheidungsfällen zum Teil die Hauptbezugspersonen genommen werden, richtig?

Im Zweifel gegen das Kind
Sonja Howard

Sonja Howard: Ich habe hier vor mir ein Foto von einer Mutter mit einer ausgeschlagenen Zahnreihe liegen, von ihrem Ehemann zugefügt und dokumentiert in der Klinik. Das Kind sagt in der Anhörung, dass es nicht zum Vater möchte, weil es die Gewalt mitbekommen und Angst hat.

Das Gericht aber überträgt das Sorgerecht auf den Vater, weil es sagt, die Mutter sei bindungsintolerant, sie würde das Kind manipulieren. In dem Moment, wo ein Richter so ein Urteil fällt, ist das staatliche Kindeswohlgefährdung. Und ja, in Fällen wie diesem werden Kinder von ihrer Hauptbezugsperson getrennt, und das teilweise sogar mit Polizeigewalt.

Jessica Reitzig: Es wird nicht hinterfragt, woher die Angst vor dem Umgang kommt. Und wenn es Erkenntnisse zu häuslicher Gewalt oder zu Missbrauch in der Familie gibt, dann wird das von Seiten des Gerichts mitunter ganz einfach ignoriert. Der Schutzauftrag, den unser Staat nach unserem Grundgesetz umsetzen müsste, wird in diesen Fällen sträflich vernachlässigt.

In eurem Buch „Im Zweifel gegen das Kind“ schreibt ihr über Trennungen, die auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden, welches Schicksal hat euch da in der Recherche ganz besonders bewegt?

Jessica Reitzig: Mir ist ein Fall besonders nahe gegangen. Hier ist ein fünf Wochen alter Säugling, der voll gestillt war und sich in einer Mutter-Kind-Einrichtung zusammen mit seiner Mutter befunden hatte, von zehn Polizisten mit Gewalt von seiner Mama getrennt, in ein Einsatzfahrzeug gesetzt und 150 Kilometer weiter ins nächste Bundesland gefahren. Dort wurde er zu einer Pflegefamilie gebracht und am nächsten Morgen auf richterlichen Beschluss und auf Hinwirken des Jugendamtes hin dem leiblichen Vater übergeben. Der Vater hat das Kind dann mit einer Flasche ernährt und das Kind wurde so lange von der Mutter ferngehalten, bis die Muttermilch versiegt ist. Das ist ein Fall, hätte ich ihn nicht selbst recherchiert, würde es mir schwer fallen, das zu glauben.

Sonja Howard: Für mich sind die krassesten Fälle die, in denen die Gewalt nachgewiesen ist. Es gibt natürlich Fälle, gerade wenn es um psychische Gewalt geht, in denen ein Nachweis schwer ist. Und da kann ich auch verstehen, wenn ein Hilfesystem ins Straucheln gerät. Aber dass die Fälle, die klar sind, trotzdem schiefgehen… da habe ich einfach null Verständnis.

Was genau hat euch dazu veranlasst, euer Buch zu schreiben, seid ihr auch persönlich betroffen?

Im Zweifel gegen das Kind
Jessica Reitzig

Sonja Howard: Eine meiner ersten bewussten Kindheitserinnerungen ist, mit anschauen zu müssen, wie mein Stiefvater meine am Boden liegende Mutter verprügelt und sie fleht, dass er aufhört. Ich habe Gewalt gegen meine Mutter miterlebt, Gewalt an mir, und ich habe erlebt, wie sich Nachbarn ans Jugendamt wenden und uns Kindern dennoch nicht geholfen wird. Weil wir so adrett angezogen waren, Klavier spielten und die vielen Meldungen angeblich nur daher rührten, weil Nachbarn Probleme mit unserer Religion hätten.

Ich habe erlebt, wie ich mit zehn Jahren zur Polizei gegangen bin und meinen Stiefvater angezeigt habe und dann einfach wieder nach Hause geschickt worden bin. Daher habe ich irgendwann angefangen mich einzufügen, die Gewalt vor mir selber zu rechtfertigen und zu bejahen. Und das ist natürlich unfassbar toxisch. Das zerstört ein gesundes Bauchgefühl, das zerstört deine Integrität, deine Wahrnehmung dessen, was richtig und was falsch ist. Und es ist unfassbar anstrengend, das als Erwachsene aufzuräumen.

Was können Eltern tun, die sich von der Justiz komplett im Stich gelassen fühlen? 

Sonja Howard: Auf staatlicher Seite gibt es leider kaum effektive Beschwerdemöglichkeiten. Deswegen fordern wir auch die Etablierung einer Ombudsstelle für Betroffene, die tatsächliche Eingriffsrechte hat.

Jessica Reitzig: Betroffene können laut werden, Netzwerke gründen und auf die Straße gehen. Wir beobachten, dass es bundesweit immer mehr Zusammenschlüsse von Betroffenen gibt, die Gesicht zeigen und ihre Geschichte erzählen.

Welche Lösungen habt ihr Parat, damit es endlich wieder „Im Zweifel FÜR das Kind“ heißen kann?

Sonja Howard: Wir verbuchen Schicksale wie die aus unserem Buch gerne als Einzelfälle. Wir haben aber so viele Fälle auf dem Tisch, dass wir sagen müssen: Das passiert viel zu häufig. Darum fordern wir, dass eine Kontrollinstanz geschaffen wird. Erst dann können wir das Glücksspiel im Kinderschutz abschaffen.

Jessica Reitzig: Weiter braucht es eine Reform des Kindschaftsrechts. Die Richterin in unserem Buch bringt es auf den Punkt: Jede internationale Konvention muss wortwörtlich ins Gesetzbuch übernommen werden. Auch die Kinderrechte müssen ins Grundgesetz. Zur großen Reform gehört auch ein Standard für familiengerichtliche Gutachten und ein nationales Institut, das für die Qualifizierung von Verfahrensbeteiligten zuständig ist. Außerdem müssen wir dringend davon weg, das Wechselmodell als Allheilmittel zu betrachten. Häufig wird dieser Kompromiss, der für die Eltern eine 50/50 Aufteilung der Betreuung bedeutet, auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Wir fordern die Einführung des Kontinuitätsprinzips in strittigen Trennungsfällen. Das heißt: Die Hauptbezugsperson bleibt für das Kind erhalten, auch nach einem Trennungskonflikt. Und für all das müssen wir Geld in die Hand nehmen, um das System auch zu befähigen.

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11 comments

  1. Kinderrechte liege auch international im Argen. So ist in rund zwei Dritteln der Länder der Welt die Körperstrafe in der Kindererziehung noch nicht verboten – siehe whitehand org.

    Angelika

  2. Liebe Lisa, liebe Katharina,
    in dem Kommentar von Freie Familie Dresden wurde ein Link eingefügt. Auf der Website wird Gedankengut dargestellt, dass sehr extrem und meiner Meinung nach demokratiefeindlich ist und mich an das Gedankengut von Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern erinnert.
    Ich weiß, dass es mehr Arbeit bedeutet, auch noch Links in den Kommentaren zu überprüfen, aber ich finde, solche Meinungen gehören nicht hierher und generell nicht verbreitet. Und mich hat es auch nur ein paar Sekunden gekostet, um zu erfassen, dass hier eine sehr gefährliche Propaganda zu lesen ist.

  3. Hallo zusammen,
    auch ich tue mich aus eigener Erfahrung in der Familie schwer. Die Ex-Frau meines Bruders verbietet nach der Trennung strikt sämtliche Kontakte des Vaters mit seinen Kindern, auch die Kontakte der Omas und Opas (beiderseits der Familie) und der Onkel und Tanten. Sie manipuliert und wirft mit Dreck. Klar, das ist nur eine Seite. Zu einer Trennung gehören immer zwei. Aber ein erwachsener Umgang mit der Situation ist nicht möglich. Zum Schutz der Kinder, die unter der Situation schon genug leiden müssen und so richtig zwischen die Fronten geraten sind, wird das akzeptiert und keine Sorgerechtsstreitigkeiten ausgetragen.
    Es ist nur schwer zu ertragen.

    1. Danke für noch eine differenziertere Sicht! Auch ich habe im Umfeld eine Oma, die der Ex – Schwiegertochter bei ihren Verleumdungen des eigenen Sohnes zustimmen muss bzw diese stumm über sich ergehen lassen muss, nur um ihre Enkel noch sehen zu dürfen. Sowas finde ich auch bitter, selbst als Alleinerziehende. Bin dann dankbar, trotz Trennung, nicht so verbittert zu sein.

  4. Wichtiges und zugleich schwieriges, vielschichtiges Thema. Allerdings bin ich nicht der Meinung, daß die Mutter immer allein Recht(e) hat beim Thema Ungang. Kinder brauchen dringend Mitspracherecht besonders auch beim Jugendamt und vor Gericht, da gibt’s keine Frage. Aber mal andersrum gefragt, ein Säugling wird aus der Mutter-/ Kindeinrichtung geholt ( warum muss die Mutter dort sein?), obwohl dort immer kompetentes Personal da ist ( Sozialarbeiter, juristische Unterstützung…). Fragt sich Niemand warum das trotzdem als nötig erachtet wurde und vom betreuenden Personal nicht in Frage gestellt wurde? Vielleicht war das Kindeswohl?
    Ich möchte auch Vätern die Rechte an ihren Kindern nicht absprechen, solange nichts vorliegt was dem Kindeswohl eindeutig widerspricht. Ich bin alleinerziehend und die Beziehung ist nicht schön zu Ende gegangen, aber das gibt mir nicht das Recht, Kindern den Vater zu verbieten oder unfair zu werden!
    Ich verstehe, das hier nur kurz angerissen werden kann, worum es geht aber bei diesen ( einseitigen) Kommentaren verstehe ich auch Richter die sich schwer tun. Fair bleiben, gerade wenn es ums Kind geht! Muttis sind nicht alles!
    Sagt eine Mutti.

      1. Elli
        Nach wie vor herrscht aber das Vorurteil Kinder gehören zur Mutter. Warum? Und warum sollten nur Frauen oder Juristinnen beim Sorgerecht Einfluss haben? Und ich bin beim Jugendamt, mit männlichem Sachbearbeiter, immer fair behandelt worden und habe alleinige Rechte aufgrund der Situation. Verfolgungswahn und falsche gefühlsbetonte Argumentation bewirken immer das Gegenteil, auch bei Familienrichtern. Und auch Frauen handeln dann oft aus Rachegefühlen ( fürs Verlassenwerden) heraus und es geht eben nicht ums Kind. Nein auch wenn das etlichen Frauen nicht passt, Kinder haben 2 (!) Eltern und 2 zugehörige Familien! Die Fälle von echter Kindeswohlgefährdung ( Gewalt, Missbrauch) sind die Ausnahme ( und die deutliche Minderheit). Und das Familiengericht/ Jugendamt ist nicht für die Rechte von Mutti oder Papa zuständig, sondern ausschließlich für die Rechte des Kindes ( auf beide Eltern, Großeltern…). Hier geht es nur gegeneinander, nicht ums Kind.

  5. Ich konnte den Artikel sehr gut lesen nahezu ohne Werbung.
    Allerdings war es sehr schwer für mich, den Artikel zu lesen, da mich die Erzählungen unfassbar wütend machen und auch sehr traurig.
    Vielen Dank für die Buchvorstellung und vielen Dank an die Autorinnen! Das Aufmerksam machen ist so wichtig, hoffentlich ändert sich was.

  6. Danke für diese Perspektive!
    In abgeschwächter Form, habe ich das mit meinem Sohn auch erlebt.
    Wir waren mehrfach zur Umgangsregelung bei Gericht, er wurde immer befragt, nie aber in seiner Meinung ernstgenommen.
    Stattdessen wurde mir als Mutter vorgeworfen ihn zu beeinflussen…

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