Ihr Lieben, mein Name könnte Sandra sein oder ein ganz anderer, aber ich möchte euch heute von etwas erzählen, das glaube ich sehr viele Menschen, insbesondere Frauen betrifft, gesellschaftlich aber immer noch stark tabuisiert und totgeschwiegen wird: Ich habe eine heimliche Essstörung und gleichzeitig bin ich Mama eines leiblichen und eines „Patchwork“-Kindes.
In meiner Lebensgeschichte sind schon früh Anzeichen dafür zu finden, dass ich mit mir selbst nicht im Reinen war, dass ich „essen (dürfen)“ an „Leistung erbringen“ gekoppelt habe, dass ich irgendwie der Meinung war, wertlos und nicht gut genug zu sein. Die ersten Erinnerungen daran reichen zurück bis ins Grundschulalter, manifestiert hat sich die Essstörung dann in der Pubertät – was auch ein sehr typischer Zeitpunkt dafür ist. Während meiner Schul- und Studienzeit litt ich also an Anorexia Nervosa (Magersucht).
Anorexia Nervosa: Die Fakten
Diese Form der Essstörung ist gekennzeichnet durch ein restriktives Essverhalten bis hin zum Fasten, Gewichtsverlust gepaart mit Angst vor einer Gewichtszunahme und einem verzerrten Körperbild. Viele Betroffene nehmen sich selbst als normal- oder sogar übergewichtig wahr, selbst wenn sie bereits deutlich untergewichtig sind.
Häufig kommt außerdem ein hoher Bewegungsdrang/Sportzwang hinzu, um die aufgenommenen Kalorien quasi wieder „abzutrainieren“. Manche Betroffene erbrechen ihre Mahlzeiten oder nehmen Abführmittel ein, um nicht an Gewicht zuzunehmen.
Kommt es zu Essanfällen, bei denen in kurzer Zeit große Mengen an Nahrungsmitteln verzehrt und danach erbrochen werden, so wird diese Form der Essstörung als Bulimia Nervosa (Bulimie) bezeichnet. Werden die Essanfälle nicht erbrochen oder durch Sport kompensiert, handelt es sich um Binge Eating.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass eine Essstörung nicht vom Körpergewicht abhängt, denn auch eine normal- oder übergewichtige Person kann an einer Essstörung leiden. Gerade Betroffene, die in einem normalgewichtigen Bereich liegen, fühlen sich häufig „nicht krank genug“, um Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen oder werden mit ihrer Erkrankung nicht ernstgenommen. Diese Dynamik ist sehr gefährlich, denn sie kann dazu führen, dass essgestörte Verhaltensweisen erst recht verstärkt auftreten, um endlich „krank genug“ zu sein und damit gesehen zu werden.
Meine heimliche Essstörung
Nun aber zurück zu meiner Geschichte. Ich möchte aus Rücksicht auf andere Betroffene keine Zahlen oder konkreten Verhaltensweisen nennen, kann jedoch allgemein sagen, dass sich bei mir über Jahre Phasen relativer Stabilität mit Phasen des Hungerns und intensiven Sporttreibens abwechselten. Ich habe versucht, das Problem mithilfe einer Psychotherapie in den Griff zu bekommen, zwei Mal war ich auch für längere Zeit in einer Klinik.
Grundsätzlich sind Essstörungen häufig sehr hartnäckig, denn neben dem offensichtlichen Leid, dass sie mit sich bringen, erleben viele Betroffene (so auch ich) einen sogenannten „Krankheitsgewinn“, z.B. das Gefühl, Kontrolle über das eigene Leben bzw. den eigenen Körper zu haben, Sicherheit zu erfahren, Erfolge zu erleben etc. Mittlerweile habe ich außerdem verstanden, dass eine Essstörung genauso eine Suchterkrankung mit Auswirkungen auf die Hirnphysiologie ist, wie beispielsweise eine Alkoholabhängigkeit und das macht es verdammt schwierig, die Krankheit hinter sich zu lassen.
Ich hatte es schon mal rausgeschafft aus der Essstörung
Nichtsdestotrotz hatte ich es mit Ende 20 tatsächlich geschafft, mich von der Anorexie zu lösen. Ich konnte ein normales Leben führen, war sozial eingebunden und verschwendete nicht mehr Gedanken an (Nicht-)Essen/mein Gewicht etc. als eine nicht-betroffene Person. Mit Anfang 30 lernte ich meine spätere Partnerin kennen, die bereits ein Kind aus einer früheren Beziehung hatte und in mir wuchs der Wunsch, selbst ein Kind zu bekommen. Nach einer langen und anstrengenden Kinderwunschbehandlung war ich schließlich schwanger mit unserem gemeinsamen Kind und überglücklich.
In meinen früheren Essstörungszeiten habe ich mir eine Schwangerschaft oft sehr schwierig vorgestellt und war mir nicht sicher, ob ich die Gewichtszunahme gut aushalten würde. Es zeigte sich jedoch, dass sich meine Befürchtungen nicht bewahrheiteten. Ich freute mich sogar über meinen wachsenden Bauch und fühlte mich in der Schwangerschaft so wohl in meinem Körper wie vielleicht noch nie zuvor.
Nach der Geburt stecke ich wieder tief in der Essstörung
Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte: Dass ich heute, fünf Jahre später, wieder tief in der Essstörung stecken würde. Mein Rückfall begann schleichend: Durch die Kinderwunschbehandlung, die Schwangerschaft und schlechte Essgewohnheiten hatte ich einige Kilo mehr als in früheren Zeiten, diese wollte ich gerne wieder loswerden – soweit sicherlich ein Wunsch, den viele Mütter teilen. Was ich allerdings massiv unterschätzt habe: Wie sehr ich mit diesem „ein paar Kilo abnehmen“ alte Suchtmuster wieder aktiviere. Aus den paar Kilo bis zu meinem Ausgangsgewicht wurden ein paar mehr und dann noch ein paar mehr, aus ein paar essgestörten Gedanken und Verhaltensweisen wurden zahlreiche.
Was die Situation gerade besonders belastend macht: Ich verheimliche das fast alles vor meiner Familie, inklusive meiner Partnerin. Es ist mir sehr wichtig, dass meine Kinder Freude am Essen erleben können und unbelastet aufwachsen. So esse ich im Beisein meiner Familie ziemlich normal. Meine essgestörten Gedanken und Ängste würde ich ihnen gegenüber niemals aussprechen. Sobald ich alleine bin, sieht alles ganz anders aus und auch mein Sportpensum absolviere ich zum größeren Teil heimlich, z.B. abends, wenn alle schlafen oder indem ich behaupte, zu einer Veranstaltung zu gehen, länger arbeiten zu müssen etc.
Zwei Leben gleichzeitig: mein „Mama-Leben“ und mein Suchtleben
Ich fühle mich gerade sehr gefangen im Suchtkreislauf und habe das Gefühl, zwei Leben gleichzeitig zu führen – mein „Mama-Leben“ und nebenbei noch mein heimliches Suchtleben. Ein bisschen so als hätte ich eine Affäre, nur eben nicht mit einer realen Person, sondern mit der Essstörung. Ein Spiel mit dem Feuer, der Reiz des Verbotenen, was auch immer… Lügen, Schuld- und Schamgefühle gibt es gratis dazu.
Ich habe im letzten Jahr bereits nach einem Therapieplatz gesucht, nach Monaten sogar einen gefunden, dann aber schnell gemerkt, dass ich nicht wirklich zu einer Veränderung bereit bin und mir die Heimlichkeit der Essstörung auch einiges gibt (ich weiß, wie seltsam sich das anhört).
Ich kann so nicht weitermachen, finde aber nicht raus
Gleichzeitig ist mir klar, dass ich nicht ewig so weitermachen kann. Einerseits weil ich genau weiß, dass „nur diese paar Kilo noch abnehmen, dann höre ich auf“ eine Lüge der Essstörung ist und eine Gewichtsabnahme keine Probleme löst. Andererseits weil ich mir eigentlich ein anderes, freieres Leben wünsche, keines voller Lügen, Selbsthass, Heimlichkeiten und Handlungszwängen.
Am Ende bin ich selbst die einzige Person, die etwas an der Situation ändern kann und manchmal bin ich sehr kurz davor, das auch tatsächlich zu tun. Aber dann ist wieder Abend und Zeit, noch ein paar Schritte zu sammeln…
2 comments
Hallo was soll uns der Artikel sagen?
Es gibt viele Eltern die das Tema betrifft und es von ihren Kindern vernhalten wollen. Aber hier gibt es gerade keinen Lösungsansatz. Weder gibt es Betroffenen Eltern Hilfestellung um sich Unterstützung zu holen. Noch Zeigt der Artikel das die Autorin etwas ändern möchte. Sie weiß so geht es nich weiter aber ändern möchte sie nichts. Ich kann einfach nicht glauben das es der Partnerin nicht auffallen soll wie die Autorin immer weiter abnimmt. Ich war selbst betroffen habe es aber herausgesucht und führe heute ein relativ normales Leben. meinem Partner würde es sicher auffallen wen ich jetzt mit der Zeit deutlich ins Untergewicht gehen würde und würde mich darauf ansprechen den er weiß um meine Vergangenheit.
Ich wünsche dir Autorin trotzdem das sie sich Hilfe holt und auch für ihr Kind endlich wider anfängt zu leben!
Liebe Sandra oder wie auch immer du heißt, ich möchte dir Mut machen. Meine Geschichte ist auf die Krankheit bezogen sehr ähnlich und auch ich hatte einen Rückfall nach der Geburt meiner zweiten Tochter. Ich habe mir Hilfe geholt und es geschafft wieder raus zu kommen! Was mir am meisten geholfen hat war die Aussage meiner Psychologin, dass ich mit der Krankheit für immer leben muss und lernen muss damit umzugehen, Trigger zu erkennen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, zu reflektieren. Der Gedanke dass die Krankheit verschwindet ist falsch. Sie wirdimmer ein Teil von uns sein. Aber wir können sie in Schach halten. Ich habe Wochen oder Monate da schaue ich wieder aufs Essen, oder mache extrem viel Sport. Aber dann ist es auch wieder ein paar Wochen und Monate alles gut.
Was ich für mich gemerkt habe ist, ich muss mich selbst verwirklichen. Und dies ist bei mir die Karriere. Oh natürlich polarisiere ich jetzt als vollzeit arbeitende Karriere-Mutter. Aber mir ging es noch nie gesundheitlich besser. Ich kann essen jetzt auch mal genießen. Das Sattsein aushalten. Ich drücke Dir die Daumen, dass Du Deinen Weg findest.