Ihr Lieben, wir lieben ja Geschichten vom Auswandern, von Familien, die ihr Glück in der Ferne suchen und nochmal einen Neuanfang wagen. Zuletzt hatten wir ja hier einen Bericht von Helen, die mit ihrer Familie nun in Norwegen lebt (HIER nachzulesen). Zwei von Helens Kinder sind schon Teenager und die waren erstmal gar nicht begeistert. Daraufhin hat sich Lena bei uns gemeldet. Sie selbst ist als 12-Jährige nach Deutschland gekommen, obwohl sie viel lieber in ihrer alten Heimat geblieben wäre. Darüber haben wir mit ihr gesprochen.
Liebe Lena, als du 12 Jahre alt warst, seid ihr von Kasachstan nach Deutschland gezogen. Was war der Grund dafür?
Die Gründe nach Deutschland zu ziehen waren vielfältig: nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es in Kasachstan nationalistische Tendenzen. Unsere Eltern wollten in ein Land auswandern, in dem wir uns – zumindest vom Äußeren her – nicht vom Rest der Bevölkerung unterscheiden. Sie meinten, dann könnten wir uns besser integrieren. Es gab die Wahl zwischen Russland und Deutschland.
Da ich einen jüngeren Bruder habe, wollten meine Eltern ihn unbedingt vor dem Einzug in die russische Armee bewahren. Mein Papa war selbst sieben Jahre Soldat gewesen. Nach dem, was wir heute über die russische Armee wissen und weil ich selbst einen Sohn habe, kann ich heute die Ängste meiner Eltern sehr gut nachvollziehen.
Wie war euer Leben in Kasachstan?
Wir hatten in Kasachstan ein ganz normales Leben in einer Kreisstadt. Meine Mama war Ärztin und Papa Ingenieur. Wir hatten eine Wohnung, eine Datscha und sogar ein Auto, mit dem wir oft die Großeltern im Dorf besucht haben.
Kannst du dich noch daran erinnern, wie du dich gefühlt hast, als deine Eltern dir das gesagt haben?
Ich habe vor dem Umzug erst ein paar Wochen vor Abreise erfahren. Meine Mama saß weinend auf dem Sofa und hatte einen Brief in der Hand. Das war die offizielle Einladung vom deutschen Staat. Sie hatte mir die Situation erklärt und, dass ich mit anderen nicht darüber sprechen darf.
Warum durftest du es nicht erzählen, dass ihr auswandert?
Meine Eltern befürchteten noch irgendwelche Nachteile für uns alle. Wer ging, zählte als Verräter. Wie im heutigen Russland.
Hast du dich denn auf Deutschland gefreut?
Nein, ich habe mich überhaupt nicht gefreut. Die Gründe waren für mich als 12-Jährige sehr schwierig nachvollziehbar. Für mich war es keine gute Vorstellung, dass ich meine Großeltern und Schule verlassen werde und in ein Land ziehen muss, dessen Sprache ich nicht beherrsche.
Wie war es für dich in Deutschland anzukommen?
Wir kamen nur als Kernfamilie nach Deutschland, nicht in einem großen Familienverbund. Meine Eltern waren sehr verunsichert. Das hat auch uns verunsichert. Schlimm fand ich, dass andere Auswanderer von ihren Familien empfangen wurden, die schon länger in Deutschland waren. Nur wir waren ganz allein.
Was uns damals sofort auffiel: Es war in Deutschland alles sehr viel ordentlicher als in Kasachstan, es war grüner und es gab sehr viel mehr Wolken und Regen.
Einen „Kulturschock“ gab es aber nicht wirklich – die Menschen sehen aus wie wir, die Sprache war uns nicht ganz unbekannt, die Bräuche auch nicht. Unsere Großeltern hatten die deutsche Sprache und Kultur auch in Kasachstan gelebt.
Warum das?
Wir zählen zu den Russlanddeutschen. Also Deutsche, die vor ca. 300 Jahren nach Russland ausgewandert sind. Die Menschen haben in der Fremde über Jahrhunderte ihre Sprache, Religion und Bräuche gepflegt. Meine Großeltern waren katholisch, haben Deutsch gesprochen und wir hatten Nachnamen wie Müller und Bauer in der Familie. Im sowjetischen Pass stand „Deutsch“ als Nationalität…
Wie schnell hast du dich eingelebt?
Mir erging es wohl wie vielen anderen in der gleichen Situation: der Anfang war furchtbar. Ich verstand nichts, wurde gehänselt, ausgegrenzt, fühlte mich einsam. Kinder können schrecklich zueinander sein.
Freunde hatte ich in den ersten zwei Jahre nicht, war viel alleine. Ich habe die erste Zeit wirklich nur gelesen und liebe seitdem Bücher und Büchereien. Tatsächlich konnte ich nach zwei Jahren fast perfekt Deutsch und bin als Klassenbeste nach der 6. Klasse an die Realschule gewechselt. Ich würde sagen, dass ich ab dem Alter von 15 dann ein halbwegs normales Leben in Deutschland hatte.
Wie fühlst du dich heute als Erwachsene in Deutschland?
Was mir ein Leben lang bleiben wird, ist das Gefühl ohne Wurzeln zu sein. In Deutschland gibt es nichts, was mich an meine Kindheit erinnert, an die Sommerferien bei Großeltern, an große Familienfeste. Ich habe noch heute schnell das Gefühl, nicht wirklich dazu zugehören oder ungerecht behandelt zu werden, obwohl objektiv gesehen kein Grund dafür vorliegt. Das ist wohl ein wunder Punkt, der immer bleiben wird.
Zum Auswandern damals kam dann auch noch die Pubertät – wie ging es dir mit all den inneren und äußeren Veränderungen?
Ja, das empfinde ich heute das eigentlich Schwierige an dem Umzug. Der kam für mich zu spät, um ihn gut zu verkraften. Ich war ein sensibles, nachdenkliches Kind. Aber meine Eltern waren zu beschäftigt mit anderen Dingen, um mich aufzufangen. Mit meinen Sorgen und Ängsten wollte ich meine Eltern nicht noch mehr belästigen. Periode, BH-Kauf, das war alles kein Thema, es wurde einfach ignoriert.
Das hat zu einer Entfremdung geführt. Meine Mama war nie mehr meine Vertraute. Ich bin heute 43 und habe zwei Kinder. Ich habe noch nie meine Mama nach einem Rat gefragt. Wirklich NOCH NIE. Zu keinem Thema.
Du hast noch einen jüngeren Bruder – wie hat der den Umzug erlebt?
Mein Bruder war damals 8 und hat den Umzug ganz anders erlebt. Er erinnert sich eher an die leckeren Brötchen mit Schokoladenaufstrich und daran, dass die ersten Bananen nach Seife geschmeckt haben. Er hat den Umzug nicht als schmerzvoll empfunden und empfindet unsere Geschichte überhaupt nicht nachteilig.
Und wie ging es deinen Eltern?
Meine Mama hat sich sehr über ihren Beruf definiert. Da sie in Deutschland nie als Ärztin arbeiten konnte, hat sich bei ihr Enttäuschung und Trauer breit gemacht. Heute ist Mama 71 und ein wenig emphatischer Mensch. Mein Papa kam mit dem Umzug deutlich besser zurecht. Er hat nie wieder als Ingenieur gearbeitet, aber er konnte gut für uns sorgen, das hat ihn zufrieden gestellt.
Wenn du heute Berichte liest, in denen Familien auswandern – was willst du diesen Eltern in Bezug auf die Kinder mitgeben?
Ich reise sehr gern und lese gern Auswanderergeschichten. Meine Erfahrung zeigt, dass Kinder bis ca. 10 Jahre das Auswandern sicher als Abenteuer erleben können. Bei uns war die Auswanderung wirklich notwendig, die meisten Auswanderer suchen aber eher das Abenteuer und da sollte man die Kinder mit einbeziehen.
Ab 11/12 – mit anfänglicher Pubertät – sieht die Situation schon ganz anders aus. Die Jugendlichen denken viel mehr über sich und andere nach, sind viel sensibler, fühlen sich oft unzulänglich und unsicher. Pubertät ist eine echt große Veränderung und lässt sich besser verkraften in einem stabilen Umfeld.
Ich sehe das bei meinem Sohn: er hat hier Freunde um sich herum, die er noch aus der Krippe kennt, eine bekannte Umgebung, so dass er einfach losziehen kann und auch Großeltern in der Nähe, falls er von uns und seiner kleinen Schwestern etwas Pause braucht 😉
Darum wäre mein Rat, die Gefühle der Großen wirklich ernst zu nehmen und nicht einfach das Beste zu hoffen. Notfalls kann man auch einfach erst ein paar Jahre später auszuwandern, wenn die Kinder auch allein bleiben können. Eltern sollten ihre Träume nicht den Kindern aufzwängen.
4 comments
Vielen Dank für diesen tiefgründigen und ehrlichen Beitrag. Als jemand, der selbst im jungen Alter umgezogen ist, kann ich mich gut mit den Herausforderungen und Emotionen identifizieren, die du beschreibst. Es ist wichtig, solche Erfahrungen zu teilen, da sie anderen helfen können, sich nicht alleine zu fühlen und besser zu verstehen, was ihre Kinder durchmachen könnten. Weiterhin alles Gute für deine Familie und dich auf eurem Weg!
Es ist berührend, diese Geschichte zu lesen. Auswandern in der Jugend kann eine enorme Herausforderung sein, besonders wenn sich die Sehnsucht nach der vertrauten Heimat stark bemerkbar macht. Die Erfahrungen zeigen deutlich, wie wichtig es ist, die Gefühle der Jugendlichen ernst zu nehmen und sie in den Auswanderungsprozess einzubeziehen. Diese offenen Worte und wertvollen Ratschläge für Eltern, die einen Neuanfang in der Ferne planen, sind äußerst hilfreich.
Hallo, vielen Dank für den sehr persönlichen Erfahrungsbericht! Mit Kindern auswandern, ist eine Herausforderung. Der Gedanke an einen Umzug Uri nach Deutschland würde für Kinder zumindest keine grosse Sprachbarriere bedeuten, nur der Dialekt ware gewöhnungsbedürftig! Liebe Grüsse
Die berichteten Erfahrungen kann ich sehr gut nachvollziehen. Meine Eltern sind auch aus Kasachstan nach Deutschland ausgewandert, als ich 10 Jahre alt war. Wir sind dann in einer Kleinstadt gelandet, wo ich leider bereits als Kind viel Fremdenhass erfahren habe. Auch ich wurde in der Schule gehänselt und ausgelacht. Wie die Autorin schon kommentiert hat: Kinder können wirklich sehr grausam sein, das prägt einen fürs Leben. Heute bin ich ein ziemlich harmoniebedürftiger Mensch, der sich oft zu sehr an andere anpasst. Ja nicht negativ auffallen oder zu sehr anecken – das ist mit Sicherheit mitunter eine Konsequenz dieser anfänglichen schrecklichen Zeit in Deutschland. Meine Eltern waren zu sehr mit dem ganzen Drumherum beschäftigt, als dass sie mich irgendwie hätten emotional auffangen können. Ich war zwangsweise sehr früh sehr selbständig, habe bereits als Kind Aufgaben bzw. Verantwortlichkeiten übernommen (z.B. Unterlagen, Dolmetschen auf dem Amt etc.), die nichts in der Kindheit verloren haben. Ich bin meinen Weg gegangen und bin stolz darauf, was ich mir alles erarbeitet und erreicht habe. Mittlerweile bin ich selber zweifache Mutter und achte sehr darauf, mit meinen Kindern eine emotionale Bindung aufrechtzuerhalten. Und sollten wir eines Tages irgendwohin auswandern, werde ich es definitiv ganz anders angehen und händeln als meine Eltern damals.