Ihr Lieben, als ich das letzte Mal über meine Sinnkrise schrieb, haben sooo viele geantwortet, sie würden gern mehr zu solchen Themen lesen. Zur Lebensmitte. Zur zweiten Lebenshälfte. Zur Sinnfrage, wenn eben kein neues Baby, keine neue Beziehung, kein Umzug oder eine Weltreise ansteht.
In meinem letzten Block der Ausbildung zur Familientrauerbegleiterin sollten wir in einer kurzen Runde sagen, wofür wir uns Mut wünschen. Ich sagte ganz spontan: „Ich wünsche mir Mut für die zweite Lebenshälfte“.
Sinnkrise: Wie gestalte ich denn nun die zweite Lebenshälfte?
In der Pause am Mittag nahm mich dann eine der anderen Teilnehmerinnen zur Seite und sagte: „Lisa, das fand ich spannend mit der zweiten Lebenshälfte bei dir. Du bist doch erst 40, wie kamst du darauf?“ Und ich sagte: Hmmm. Für mich fühlt sich das grad so an. Vielleicht erwarte ich nach der 80 nicht mehr so viel, so dass ich jetzt schon die zweite Lebenshälfte einläute 😉 Aber eigentlich sind es bei mir vermutlich wohl eher die Lebensumstände.
Für mich fühlt es sich auch deswegen nach dem Beginn der zweiten Lebenshälfte an, weil die Kinder schon so groß sind und das erste nächstes Jahr Abi macht und vielleicht auszieht. Weil wir grad für die Führerschein-Theorieprüfung lernen statt Windeln zu wechseln. Weil auch die jüngsten Kinder dieser Familie dieses Jahr schon 15 werden und mich mittlerweile auch größentechnisch überholt haben.
Die neuen Freiheiten können einen schon auch überfordern erstmal
Für mich tun sich grad Freiheiten auf, die mich noch ordentlich überfordern (wirklich sehr ähnlich wie bei meiner Tochter, wenn es darum geht, was sie nach dem Schulabschluss macht, viel zu viele Möglichkeiten!). In dem Buch Midlife, das grad meinen Nachttisch ziert, ist ein Fallbeispiel erwähnt, in dem ich mich ein bisschen wiedererkannte.
Da erzählt eine Frau, dass sie sehr jung Mutter wurde, mit Anfang 20 (wie ich) und dass sie, als ihre Tochter mit 19 recht überraschend auszog, zum ersten Mal eine Erwachsene ohne Kind war. Wow. So hatte ich das noch nie gesehen, aber irgendwie konnte ich mich in diesen Worten wiederfinden. Ich war 23, als ich schwanger wurde und mich auf den Weg in die Mutterschaft machte. Nun werde ich bald 41 und das erste Kind macht den Schulabschluss.
Aus der liebevollen Fürsorge werden praktische Dienstleistungen
Natürlich hab ich noch Kinder, ich wasche und koche auch noch viel und habe etliche Fahrdienste, aber diese Fürsorge, dieser Überlebens-Mental Load (hast du genug gegessen, bist du warm genug angezogen, wie kann ich dir ansonsten grad das Leben retten?) fällt weg. Sie ziehen sich selbst an, sie organisieren ihre Schulsachen, sie wissen, wann das Training beginnt, sie verabreden sich selbständig, sie bleiben auch mal über ein Wochenende allein (und ok, beim letzten TikTok-Rezept-Nachkochen fiepten plötzlich alle Feuermelder, aber auch das konnten wir telefonisch begleiten ;-)).
Das ist wundervoll und es ist der Lauf der Dinge und trotzdem fehlt mir das natürlich manchmal auch, dieses Gebrauchtwerden, die zarten Finger, die nach deiner Hand greifen, wenn es zu laut oder trubelig wird, weil ich es ja gar nicht mehr anders gewöhnt bin.
Die Abgrenzung der Kinder kann sich wie Liebeskummer anfühlen
„Es fühlt sich ein bisschen wie Liebeskummer an“, beschreibt eine Protagonistin im Midlife-Buch die Zeit, in der sich die Teenager abgrenzen, deine pure Existenz in Frage stellen, dich laufend kritisieren, sich an dir abarbeiten und dann wieder in ihre Welt verschwinden, während du vielleicht erstmal vor den Kopf gestoßen bist. Weil diese Kinder so lang „dein Team“ waren – und bei mir im Speziellen auch einfach zum Teil die einzigen Leute am Tag, denen ich begegne, weil wir so einsam auf dem Land wohnen.
Ich habe als Selbständige kein Büro, in das ich fahre, keine Team-Events, nicht diese Zugehörigkeit zu einer Gruppe (mein Blogfamilia-Team gibt´s seit Corona nur noch als Duo z.B.). Ich hab meine Katharina hier bei Stadt Land Mama (zumindest telefonisch, weil wir so weit entfernt wohnen), aber die hat quasi gleichzeitig mit dem Beschluss unserer Jüngsten, die Nachmittage lieber bei Freunden oder im eigenen Zimmer zu verbringen, ein Baby bekommen, so dass ich auch da vorübergehend nicht mehr die gleiche Intensität an Austausch habe und wir jetzt nicht gerade ein weiteres Buch zusammen schreiben oder Ähnliches.
Wobei ich da ehrfürchtig sagen muss, dass ich es mit einem Neugeborenen zu Hause nicht im Entferntesten schaffen würde, überhaupt noch so präsent zu sein hier im Blog und im Leben der anderen wie sie; ich würde vermutlich komplett von der Bildfläche verschwinden, wenn ich so etwas Süßes, aber eben auch Zeitintensives nochmal erleben dürfte, ich bin da kein so großes Talent wie sie.
Mein Kompass wackelt & schlägt dauernd in andere Richtungen aus
Also habe ich grad viel Zeit allein und für mich und das bin ich nicht gewohnt und es schmeckt mir als absolutes Rudeltier auch wirklich oft nicht besonders gut. Und wenn ich dann von Frauen in ähnlichem Alter lese, die schreiben, dass sie niemals so sehr bei sich selbst waren, dass sie nie wieder jung sein wollten, dass sich um nichts in der Welt tauschen würden, weil sie erst jetzt ihr wahres Ich erkannt haben, dann denke ich: Ui. Nee. Bei mir ist das nicht so. Ich war irgendwie schon ordentlich Ich, als ich noch jung war. Und war nie so orientierungsbeansprucht wie heute, war nie so unsicher, wohin ich eigentlich will und was da noch so kommt. Mein Kompass wackelt und schlägt grad dauernd in andere Richtungen aus.
Als junge Frau war der Weg (für mich persönlich zumindest) so schön klar. Ich wollte studieren, in eine neue Stadt ziehen, Geld verdienen, ich wollte meine Journalistenschule, ich wollte auf eigenen Beinen stehen, wollte raus in die Welt, unbedingt heiraten, wünschte mir jung Kinder. Ich hatte ganz schön Glück, dass das dann auch alles so hingehauen hat. Aber für die zweite Lebenshälfte fehlen die vorgegebenen Wege so ein bisschen.
Ich bin nicht egoitisch genug für nur noch Selbstfürsorge
Viele werden Yogalehrerinnen oder schulen nochmal um. Einige wandern aus, andere sind zufrieden, mit dem was sie haben. Ich mach von allem so ein bisschen, lese viel, besuche viele Sportkurse, bewerbe mich (ohne Erfolg bislang), mache Weiterbildungen (aber ohne bislang zu wissen, wo sie hinführen), aber die entstandene Lücke füllt das alles bislang nicht. Mir ist das alles nicht groß genug, nicht sinnhaftig genug, nicht ausreichend nachhaltig und bleibend, ich bin irgendwie nicht egoistisch genug, mich nur noch um mich selbst kümmern zu wollen…
Und ich würde jetzt gern abschließen mit einem: Und deswegen habe ich jetzt einen Verein gegründet für die Belange von Übersehenen und wir haben ein Büro in der Kölner Innenstadt mit einem wahnsinnig netten Team, in dem ich mich zu Hause fühle und mit Dankesbriefen, die ans Herz gehen, mit einer jährlich stattfindenden Gala, auf der wir Millionen sammeln, die wir Menschen zur Verfügung stellen, die sie wirklich brauchen und wir machen jetzt nochmal was richtig Großes und Sinnvolles. Aber soweit ist es noch nicht.
Wie wird es weitergehen? Nobody knows
Ganz vielleicht ist dieser Verein ja in Planung, es fehlt jedoch noch am letzten Mumm. Aber wer weiß. Aus Gedankenkonstrukten kann ja manchmal Großes werden. So war es bei Stadt Land Mama ja auch. Wer hätte damals gedacht, was da mal draus werden würde… die Hoffnung stirbt also zuletzt. Nur Geduld, arrrrgh, zählt wahrlich nicht zu meinen größten Stärken…
Umso schöner, dass ich grad in dieser Woche einen Abend mit einer wundervoll inspierenden Neubestatterin in Bonn verbringen durfte, ich mich mit einem weiteren Trauerbegeleiter aus meinem Kurs zum Ausbaldowern von Begleitungsmöglichkeiten hier vor Ort treffen durfte und gestern Abend meinen Kurs zur Emotionalen Ersthelferin in Köln beginnen konnte…
5 comments
Liebe Lisa,
ich fühle ähnlich wie du. Immer wieder schleicht sich die Frage ein, soll es das jetzt gewesen sein?
Wir als Generation sind da anspruchsvoll. Unsere Mütter und Großmütter haben sich damit eher arrangiert.
Trotzdem glaube ich, dass es uns irgendwie gelingen wird, auch der zweiten Lebenshälfte einen größeren Sinn zu verleihen.
Liebe Lisa, beim Stichwort Verein fällt mir ein: die Stiftung Bildung ist vielleicht so ein großer Verein, wie du ihn dir erträumst und im Moment ist Hauptamtlich eine Stelle im Vorstand zu vergeben. Vielleicht wär das was für dich?
Liebe Grüße
Melanie
Liebe Lisa, vielen Dank für deine Ehrlichkeit.
Ich kann dieses Suchen nach dem Sinn für die nächsten Jahre so gut verstehen.
Ich arbeite gerade in einem Job der mich überhaupt nicht erfüllt und suche gerade etwas, was meinem Leben einen Sinn gibt, neben Kindern, Haushalt etc. Ich bin inzwischen 43 und denke jeden Tag: „Das kann es doch nicht gewesen sein“.
Ich hoffe sehr darauf, dass sich bald eine neue Tür für mich aufmacht.
Dir liebe Lisa wünsche ich auch so eine zukunftsweisende Tür. Alles Gute Simone
DANKE Lisa, für diese Einblicke!
Es tut so gut teilhaben zu können an deiner Veränderungsphase, weil ich so etwas (wenn auch mit anderen Umständen) auch kenne. Und ich weiß, dass es im Leben auch wieder bei mir um die Ecke kommen wird. Aber für dich ist es natürlich wirklich eine anstrengende Zeit!
Danke, dass du so transparent bist, es erkennen sich bestimmt viele hier wieder. Irgendwie ein bisschen ist es ja auch wieder wie Pubertät und Erwachsenenwerden. Halt Level 2.0.!!!
Loslösung vom Vertrautem, Schwebephase, Unsicherheiten… es ist schwer! Und Hut ab und Respekt, dass du diese Gefühle nicht weglächelst/klein redest/ betäubst. Das wird sich auszahlen. Ich habe mal gelesen: hard is not the same as bad. Ich bin fest überzeugt, es wird sich etwas Gutes für dich aus diesem ‚Loch‘ ergeben. Nimm dir Zeit für aaaalll the feelings und danke, dass du diese Erfahrung sowie eure Erfahrungen mit euren Teenager hier teilst. Wir Anderen profitieren sehr davon. Alles Liebe. Und chakka!
Ja, vielen Dank für diesen Text!!
Meine Kinder sind noch kleiner aber seit kurzem arbeite ich endlich wieder und genieße das total. Gleichzeitig frage ich mich jetzt schon manchmal ob das jetzt einfach bis zur Rente so laufen soll oder ob ich nicht doch nochmal etwas Großes starten könnte… Irgendwann, wenn die Kinder noch etwas größer sind…
Aber was??? Ein bisschen kann ich Dich also verstehen.
Diese Orientierungslosigkeit ist bestimmt schwer auszuhalten. Aber richtig gute Ideen werden oft geboren wenn uns langweilig ist, wenn wir leer sind, wenn wir frei sind, wenn eben Platz ist für eine gute Idee.
Ich finde Deinen Weg so spannend bis hier und bin ganz neugierig wie er weiter geht!!