Ihr Lieben, wir hatten schon öfter Berichte über übergewichtige Jugendliche und Kinder. Ramona hatte auch schon als Kind Übergewicht und erzählt uns heute, wie das ihre Kindheit geprägt hat und wie ihre Eltern sie hätten besser unterstützen können…
Liebe Ramona, du hast uns geschrieben, dass du schon als Kind Übergewicht hattest. Erzähl erstmal ein bisschen darüber, wie du aufgewachsen bist…
Wir haben relativ ländlich gewohnt in einem Dorf mit ca. 2000 Einwohnern. Meine Eltern waren selbständig und hatten ein Geschäft in einer kleinen Stadt. Mein Vater war deswegen sehr wenig zu Hause, ist morgens früh in den Laden, kam dann zum Mittagessen wieder und dann erst abends gegen 19:30 / 20 Uhr. Er war für mich wenig präsent unter der Woche.
Meine Mutter hat halbtags mit im Büro gearbeitet. Wenn eines von uns Kindern krank war, ist sie zu Hause geblieben, damit sie sich um uns kümmern konnte. Ansonsten hat sie mittags gekocht, so dass es immer ein gemeinsames Mittagessen gab. Ich habe zwei Brüder, einer ist 2,5 Jahre älter als ich, der andere 5 Jahre jünger als ich.
Laut deiner Mutter bist du schon als Kleinkind zu dick gewesen.
Ja, das sagt meine Mutter. Ich selbst sehe auf Fotos aus meiner Kindheit ein kleines Kind mit Bäuchlein und dickeren Backen – aber garantiert kein Kind mit extremem Übergewicht. Interessanterweise hatten meine Brüder das gegenteilige Problem, beide waren eher zu schmal.
War das Thema bei euch zu Hause?
Ja sicher, für meine Mutter war das auch keine einfache Situation. Sie hatte zwei Kinder, die kaum Hunger hatten und mich, die gerne rund um die Uhr gegessen hätte. Die einzige Person aus meiner direkten Familie, die mein Gewicht nie zum Thema gemacht hat, war meine Uroma. Bei ihr war ich auch am allerliebsten. Sie war eine tolle, moderne Frau.
Wie würdest du sich als Kind beschreiben?
Generell war ich sehr sensibel, ja sogar eher ängstlich. Wir mussten in unserer Freizeit viel Sport machen. So wurden wir zum Leichtathletik-Kurs geschickt, weil Freunde meiner Eltern dort Trainer waren. Und zum DLRG-Schwimmen, da war zweimal die Woche Training. Ich war zwar dick, aber nie unsportlich. Aber ich weiß, dass mich gestört hat, dass dieser ganze Sport so verpflichtend war. Auch, wenn man mal keine Lust hatte, durfte das Training nie ausfallen.
Ich wäre sehr gerne zum Ballett gegangen. Zu dieser Zeit kam gerade die Kinderserie „Anna“ im Fernsehen und alle Mädchen wollten Ballett tanzen. Ich durfte nicht, weil ich nicht die typische Figur hatte. Dass meine Eltern das so entschieden haben, kann ich bis heute nicht verstehen.
Du erinnerst dich besonders gut an Situationen beim Kinderarzt, in denen dir klar gemacht wurde, dass du zu dick bist. Wie war das?
Ich habe diesen Arzt gehasst. Heute noch erinnere ich mich daran, dass ich bei JEDEM Termin gesagt bekommen habe, dass ich zu dick bin. Er hat mich das auch ganz deutlich spüren lassen. Auf seinem Schreibtisch stand ein großes Glas mit Gummibärchen. Nach jeder Untersuchung durften meine Brüder sich eine kleine Hand voll Gummibärchen daraus nehmen. Mir hat der Arzt selbst ein einziges herausgefischt und es mir mit den Worten in die Hand gegeben „Mehr nicht, weil du ja eh schon so dick bist!“
Nach den Arztbesuchen ging es weiter. Ganz schlimm war für mich, wenn ich mit meiner Mutter dann alleine im Auto unterwegs war. Diese Gelegenheit hat sie immer für eine persönliche Ansprache genutzt um mir zu erklären, dass es so nicht weiter gehen kann. Der Arzt hätte wieder zu ihr gesagt, dass ich dringend abnehmen müsse. Das war für mich wirklich grausam.
Ganz konkret: Wie sind deine Eltern mit deinem Übergewicht umgegangen? Haben sie doch auf Diät gesetzt?
Dadurch, dass meine Brüder immer sehr schmal waren, durften sie essen was sie wollten und natürlich auch in unbegrenzter Menge. Ich hingegen bekam alles rationiert.
Süßigkeiten gab es bei uns zu Hause gar nicht, Limo gab es nur an Geburtstagen und Feiertagen. An Ostern und Weihnachten gab es natürlich dann doch Schokolade. Da waren wir Kinder dann total gierig drauf. Allerdings durfte ich dann immer nur ein Teil essen und meine Brüder mehr. Das kannte ich nicht anders. Ich bekam ja immer dazu gesagt: „Weil du eh so dick bist“.
Wenn ich beim Essen nach meiner Portion noch Hunger hatte, bekam ich einen ganz kleinen Nachschlag, meine Brüder noch eine riesige Portion. Das fand ich als Kind echt unfair. Geschimpft hat meine Mutter nicht. Sie hat nur immer gesagt, dass ich so viel esse und eh schon zu dick bin.
Meine Oma hat mir immer in die Seite gekniffen und gesagt „Guck mal was du viel Speck hast.“ Ich fand das unangenehm, aber meine Oma durfte das, denn sie war selbst nicht die Schmalste…
Eine ganz schlimme Erinnerung habe ich an die Sommerferien als ich 12 oder 13 Jahre alt war. Wir waren im Urlaub, bim Umziehen fielen meiner Mutter Dehnungsstreifen (Schwangerschaftsstreifen) an meinem Bauch auf. Sie redete den ganzen Tag von nichts anderem mehr und machte, als wir wieder zu Hause waren, als erstes einen Termin beim Arzt aus. Dort wurde mir wieder einmal mitgeteilt, wie extrem übergewichtig ich bin und ich bekam wieder ein Rezept für Ernährungsberatung. Damit ich ENDLICH abnehme.
Wurdest du von anderen Kindern wegen deines Gewichts gehänselt?
In meiner Erinnerung hat weder im Kindergarten noch in der Grundschule ein Kind was zu meinem Gewicht gesagt. Ich war auch immer schon einen Kopf größer als der Rest, zudem gab mehrere Kinder die meine Figur hatten.
Kannst du dich noch erinnern, welches Körpergefühl du als Kind hattest?
Meine Mutter hat uns viele Klamotten bei Aldi oder in sehr günstigen Läden gekauft. Oder sie hat uns Pullis gestrickt. Das war toll, weil sie da echt ein Händchen für hatte. Sie konnte Bilder 1 zu 1 umsetzen und hat uns dann Snoopy oder Tom und Jerry etc. darauf gestrickt. Das war echt cool und da wurden wir auch drum beneidet.
Außerdem haben wir viele Sachen von den Kindern von Freundinnen meiner Mutter bekommen, die wir dann aufgetragen haben. Das war für mich ok. Allerdings habe ich mich gewundert, dass ich irgendwie nur Hosen im Schrank hatte. Denn auch bei den „geerbten“ Klamotten waren ja Kleider und Röcke dabei. Die hat meine Mutter allerdings meist direkt weggepackt, weil ich darin ja „noch dicker aussehen würde“.
Was für mich ganz schlimm war, war dass ich nicht in die schönen Sachen gepasst habe, die viele andere Mädchen anhatten. Damals gab es die Marke Oilily in der kleinen Stadt hier. Ich fand die Klamotten so schön, aber habe nie etwas davon bekommen, weil ich vermutlich eh nicht reingepasst hätte.
So ab der 6. Klasse habe ich dann schon darauf geachtet, dass ich nichts eng Anliegendes anhabe. Oder zu kurze Kleidung. Das war mir schon immer unangenehm.
Deine erste Ernährnungsberatung hattest du mit 8 Jahren- hat das was gebracht?
Meine Mutter hat mir ganz euphorisch erzählt, dass Ernährungsberatung ganz toll ist. Also habe ich mir das alles angehört. Ich weiß nicht mehr, wie viele Termine wir bei der Frau hatten. Aber noch heute sehe ich diese dürre Frau vor mir sitzen und erzählen, was ich alles in Zukunft nicht mehr essen dürfte.
Sollte ich zwischendurch Hunger haben sollte ich Obst essen oder Joghurt. Ich bekam erklärt. dass Kohlenhydrate „böse“ sind und dadurch mein Übergewicht kommt. Natürlich habe ich mich erstmal daran gehalten. Ob ich wirklich abgenommen habe, weiß ich nicht mehr. Aber gebracht hat es mir nichts – außer noch mehr Schuldgefühle beim Essen.
Was hat das alles mit deinem Selbstwertgefühl gemacht?
Ganz ehrlich? Irgendwann fühlt man sich automatisch schlecht. Kein Kind isst, weil es gerne dick sein möchte. Mich hat nie jemand gefragt, warum ich nicht satt werde. Warum ich den Punkt nicht erkenne, an dem ich eigentlich genug gegessen habe.
Ich wurde tagtäglich auf mein Essverhalten hingewiesen und am Tisch ermahnt. „Danach reicht es“ oder „Dann ist aber Schluss“ hieß es immer. Ich fühlte mich dann immer schlecht, ich konnte doch nichts dafür, dass ich nicht satt war.
Das war sicher besonders in der Pubertät dann nicht leicht…
Ja, in der Pubertät ist man ja oft sehr selbstkritisch und grübelt viel. Ich fühlte mich nach jedem Essen schlecht und bezog ich die viele Kritik dann komplett auf mich und meinen Selbstwert.
Ich fand mich irgendwann natürlich auch selbst zu dick und redete mir ein zu versagen, weil alle Abnehmversuche scheiterten. Dies führte dazu, dass ich meine Emotionen dann wieder mit Essen reguliert habe – ein Teufelskreis.
Wie hat sich das entwickelt? Wie sind dein Gewicht und Essverhalten heute?
Ich habe leider immer weiter zugenommen. Man bekommt ja von so ziemlich jedem Arzt gesagt, dass die Beschwerden erstmal vom Übergewicht kommen. Also macht man eine Diät und nimmt im besten Fall einige Kilos ab. Irgendwann isst man dann doch wieder wie davor und die Kilos kommen zurück und bringen noch ein paar Freunde mit. Ich habe in der Pubertät einiges erlebt was ich mit mir selbst ausgemacht habe. Ich habe mich oft alleine gefühlt und dann eben auch aus Traurigkeit oder Frust gegessen.
Im Laufe der Jahre ging das Gewicht mal rauf, mal runter. Ich habe geheiratet, bekam zwei Kinder, dann gibt meine Ehe in die Brüche. Auch dann war Essen für mich ein guter Trost.
Nach knapp 3 Jahren als Alleinerziehende bekam ich ein Burnout. Ich hatte Glück und fand schnell eine tolle Therapeutin und habe eine Verhaltenstherapie gemacht. Ich habe es dann endlich geschafft, meine Ernährung langsam umstellen und habe mich auch an ein Adipositaszentrum gewandt. Letztes Jahr im Mai habe ich eine Magenverkleinerung bekommen, seitdem esse ich so gesund wie noch nie.
Ich war und bin mir bewusst, dass die OP nur eine Krücke ist. Der Kopf wird ja nicht mit operiert und wenn man sich nicht an die Vorgaben hält, kann der Magen sich wieder weiten. Was mir in der Klinik aber endlich bewusst wurde ist, dass Adipositas eine Krankheit ist. So gerne man abnehmen möchte und alles dafür tut, kann man ab einem gewissen BMI und nach so vielen Jahren Übergewicht nicht einfach abnehmen und dieses Gewicht dann halten. Das ist auch in den Köpfen vieler Ärzte noch nicht angekommen. Kein Mensch ist gerne dick.
Meine Therapeutin hat mich bis zu diesem Schritt toll begleitet und unterstützt. Ohne sie hätte ich mein Leben nicht so gut aufgeräumt und hätte immer noch viele negative Glaubenssätze aus der Kindheit im Kopf.
Welche Reaktionen und Hilfen hättest du dir als Kind von Erwachsenen gewünscht?
Gewünscht hätte ich mir einfach Kind sein zu dürfen. Nicht immer dieses leidige Thema im Kopf zu haben und Angst davor zu haben, dass man auf sein Gewicht reduziert wird. Das macht die Beziehung zwischen Eltern und Kindern einfach kaputt.
Mir hat es gefehlt, dass meine Mutter mich einfach mal in den Arm genommen und mir gesagt hätte, dass ich einfach gut bin so wie ich bin. Dass ich für sie nicht dünn sein muss, um geliebt zu werden.
Es wäre schön gewesen, wenn der Sport weniger belastet gewesen wäre. Dass es nicht so wichtig ist, ob man gewinnt oder verliert. Es sollte beim Sport bei Kindern doch um den Spaß an der Bewegung gehen.
Welchen Tipp hast du an Eltern, die sich Gedanken um das Thema machen?
Liebt eure Kinder wie sie sind. Bewegt euch gemeinsam. Esst Obst und Gemüse, aber auch mal Schokolade oder Gummibärchen. Verbietet nichts, sondern überlegt euch, dass es die Menge macht. Verteufelt bitte nichts.
Ich habe mir geschworen, nicht dieselben Fehler zu machen wie meine Mutter. Bei uns gab und gibt es immer alles. Es wurden nie Süßigkeiten weggeräumt oder Verbote ausgesprochen. Dadurch hat es hier seinen Reiz verloren.
Meine Kinder (12 und 15 Jahre) sind beide normalgewichtig und haben einen gesunden Umgang mit dem Thema Ernährung. Wir kochen gemeinsam, machen aber auch oft gemeinsam Sport. Ich sage ihnen aber auch, dass man mit Übergewicht kein schlechter Mensch ist. Dass man Schwäche zeigen darf und niemand perfekt ist.
3 comments
Liebe Ramona, ich bin entsetzt, weil ich fast das Gefühl habe, meine eigene Geschichte zu lesen. So viele Parallelen ! Der Vorfall mit Arzt..schlimm ! Und der will Kinderarzt sein. Unfassbar. Auch ich hatte immer einen Horror vor Arztbesuchen, weil man mir immer nur Vorhaltungen gemacht hat. Bei der Schuleingangsuntersuchung sagte mir die Schulsekretärin (selbst ´ne richtig dicke Frau), dass niemand mit mir spielen werde, wenn ich zur Schule komme und dass ich sowieso früher sterben werde. „Willst Du das ???“ herrschte sie mich an. Leider war ich mit knapp 6 Jahren nicht sehr schlagfertig. Ich wurde von allen wegen meines Gewichtes fertig gemacht: Ärzte, Eltern, Nachbarn, Verwandte, Lehrer, Kindergärtnerin – sogar die Kieferorthopädin machte mein Gewicht zum Thema. Der Erfolg hiervon war, dass ich ganz schnell lernte, heimlich zu essen. Und das tat ich natürlich im Überfluss… 3 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes konnte ich mich dann selbst nicht mehr sehen und der Entschluss, etwas gegen das Gewicht zu tun reifte langsam in meinem Kopf. Schlussendlich habe ich dann das Programm der Weight Watchers gemacht. Nicht im Rudel mit wöchentlichen Sitzungen – sondern ganz für mich. Ich brauchte die Ruhe für mich und nahm mir vor, vielleicht erstmal 5 kg abzunehmen. Und plötzlich machte mir das Ganze Spaß: ich habe mich dann von Gr. 44/46 auf 36/38 diätet. Das ist 20 Jahre her und ich passe noch immer in 38. Aber das ist auch egal. Die Schikanen, die füllige Kinder zu erleiden haben, machen die Sache aus meiner Sicht nur schlimmer, weil sie lernen, heimlich zu essen und sich mit dem Essen zu trösten.
Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute !
Wahnsinn, in so vielen Bereichen beschreibst du mein Leben von früher, die ständige Maßregelung wegen des Essens und das Kneifen in die Speckröllchen hat meine Mama sogar am Tag meiner Hochzeit gebracht!
Bei mir hat es zu einer mittleren Adipositas geführt und ich komme aus der Schleife nicht raus.
Immerhin ist meine Tochter (8) nicht in Gefahr, sie ist normalgewichtig und macht freiwillig ganz ganz viel Sport und motiviert mich damit öfter noch zum Bewegen.
Adipositas als Krankheit einzustufen ist ein ganz wichtiger Schritt.
Danke für den tollen Bericht und alles Gute!
Liebe Ramona, toll das du von deiner Kindheit berichtest. Ich habe Ähnliches durchgemacht. Allerdings gab es bei mir nur immer leere Vorhaltungen, dass sich alles ändern muss und im Umkehrschluss war mein Teller doch wieder voll und niemand hat gezeigt, wie gesundes Essen funktioniert. Diese Gespräche „es muss sich etwas ändern“ oder beim Shoppen „Du muss kaufen was dir passt, egal ob es hübsch ist oder nicht“ … verletzend! Ich liebe meine Mutter und heute halte ich es ihr auch nicht mehr vor. Ich denke aber oft daran, wenn sie gesünder und vor allem weniger gekocht hätte (wir waren 3 Kinder und alle waren übergewichtig), dann wäre es nicht so eskaliert. Ich glaube es ist die Hilflosigkeit gewesen. Sie wusste selbst nicht mehr was gesund war und was nicht … die Überforderung zuhause; drei Kinder, ein Haus, ein Mann der nie da war.
Meine beiden Kinder sind normalgewichtig, ebenso mein Mann! Hier wird kein Süßkram versteckt – das kenne ich von zuhause und somit wurde das Taschengeld direkt in Eis, Süßkram oder Pommes mit Majo umgesetzt.
Mein Gewichtsleben ist ein Auf und Ab. Von 65 kg bis 130 kg war und ist alles dabei. Manchmal habe ich Rückfälle, muss mich zusammenreißen, mich nicht quer durch den Kühlschrank zu „fressen“, aber aktuell läuft es gut. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen 😉 ich drücke uns die Daumen!