Das große Schweigen der Kriegskinder-Generation

Kriegskinder

Ihr Lieben, wer von euch hat noch Großeltern, die Kriegskinder waren? Oder vielleicht haben sogar die Eltern von euch noch die letzten Tage oder Monate des Krieges mitbekommen? Viele Menschen aus dieser Generation haben nie gelernt, über ihr Erlebtes zu sprechen. Was vorbei ist, ist vorbei, dachte man und wollte vergessen und neu anfangen. Dass das aber natürlich zu Traumata und vielen Problemen führen kann, weiß man heutzutage gewiss. Die Autorin Karin Lassen hat dazu ein Buch geschrieben und uns einen Gastbeitrag über das Thema verfasst.

Vom Rätselraten der Kriegsenkel, von Traumata, Sprachlosigkeit und Unverständnis

Der zweite Weltkrieg endete vor 78 Jahren. Und wir reden hier über Traumata der Kriegskinder und -enkel. Ernsthaft? Sind da nicht genug Probleme zu bewältigen, wie fehlende Kita-Plätze, desolate Schulgebäude, Krieg in Europa, Flüchtlingsdramen, steigende Lebensmittelpreise, Energiekosten, Klimakrise? Verdanken wir nicht sogar etliche jener Probleme diesen beiden Generationen? Ja. Und deshalb sollten wir hinschauen und hinhören.

Der zweite Weltkrieg versetzte nicht nur Staatengrenzen und kostete unzählige Menschenleben, er zerstörte auch die Lebensentwürfe derer, die damals geboren wurden und das Geschehen im Grunde nie verarbeitet haben. Man sprach nicht viel, man fügte sich, überlebte und vergaß oder verdrängte. Die Kriegskindergeneration. Das sind übrigens diejenigen, die wir aktuell im Altersheim besuchen.

Bloß nicht über früher reden…

Kriegskinder
Foto: pixabay

Wer nur Schweigen kennt, der hinterfragt es nicht. Wozu auch. Was hatte der Schrecken der frühen Kindheit mit dem Leben der 1960er und 1970er Jahre zu tun? Rein gar nichts, dachte man. Hunger und Mangel waren überstanden. Es wurde gearbeitet, eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, ein Auto angeschafft, in Urlaub gefahren, endlich sorgenfrei gelebt. 

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, das war eine der Weisheiten, die man auch an die eigenen Kinder weitergab, die Kriegsenkel. Was jedoch früher war, war lange vorbei, damit musste man den Nachwuchs nicht belasten. Und fragte der dann doch einmal, lautete die Antwort oft: „Da gibt es nichts zu erzählen, das war halt so.“ Oder auch „Ach, das ist so lange her, das weiß ich alles nicht mehr. War ja selbst noch ganz klein.“

Und der Nachwuchs akzeptierte das. Er kannte es nicht anders. Fragte nicht weiter nach, hatte eigene Sorgen und Ideen. Arbeitete, gründete Familien, baute Häuser, schaffte mindestens ein Auto an, bereiste die Welt, lebte. Und stellte eines Tages, als die Eltern alt und wunderlich wurden, plötzlich fest, dass hier etwas ganz und gar falsch gelaufen, man selbst in seiner eigenen Hilf- und Sprachlosigkeit aber gefangen war.

Was haben unsere Eltern und Großeltern als Kriegskinder erlebt?

Diese Erfahrung musste auch Birgit aus „Sei tapfer im Leben. Die Spuren der Kriegskinder“ machen. Der 75. Geburtstag ihrer Mutter Ilse stellt einen Wendepunkt in Birgits Leben dar. Sie erkennt, dass Ilse dringend ihrer Hilfe bedarf. Doch Ilse lässt sich nicht helfen, lehnt jegliche Unterstützung als Einmischung und Bevormundung ab. 

Nach Ilses Tod lernt Birgit ihre Mutter unfreiwillig neu kennen. Nie hatte Ilse über ihre Kindheit und Jugend gesprochen, dafür aber unzählige Briefe, behördliche Korrespondenz und Fotografien aufbewahrt. Selbst ihre Schulzeugnisse ab 1946, und ihr Poesiealbum, das sie 1949 zum 10. Geburtstag bekommen hatte, waren noch vorhanden.

„Sei tapfer im Leben“, so begann der Spruch, mit dem sich ihre Mutter Hedwig darin verewigt hatte. Mosaiksteinen gleich fügt sich ein Leben voller Wendungen und Dramen zusammen, das das Schicksal einer verlorenen Generation widerspiegelt. Einer Generation, die von starren Konventionen, Sprachlosigkeit und verzweifeltem Lebenshunger geprägt war.

Luftangriffe, Zerstörung und Lebensmittelknappheit

Geboren in Ludwigshafen im Mai 1939, begleiteten Luftangriffe, Zerstörung und Lebensmittelknappheit Ilses erste Lebensjahre. Umsorgt von der dominanten Mutter Hedwig, einer strengen Protestantin, und dem zu Schwermut neigenden Vater Wilhelm, der sich vom einfachen Tagelöhner zum Vorarbeiter in der BASF hocharbeitete und in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen wurde, verbrachte sie behütete Kindertage zwischen Arbeitersiedlung und Luftschutzkeller.

Sie absolvierte die Volksschule und eine Lehre und wollte als Teenager in den 1950er Jahren vor allem eines: leben und frei sein. Die Freiheit währte nicht lange, mit 19 Jahren wurde sie schwanger. Das Entsetzen ihrer Eltern war groß, hatten sie doch alles getan, um Ilse zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

Natürlich wurde nun ganz schnell geheiratet. Wohnungsnot zwang das junge Ehepaar in Ilses ehemaliges Kinderzimmer, das sie sich ab Dezember 1959 auch noch mit dem kleinen Sohn Udo teilten. Nach weniger als einem Jahr war die Ehe gescheitert. Ilse fand eine eigene kleine Wohnung. Um Udo kümmerten sich ihre Eltern, da sie fortan selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen musste.

Was es innerhalb der Familien anrichtete

Die Entfremdung von Hedwig und Wilhelm nahm im gleichen Maße zu, wie Ilse an Selbstständigkeit gewann. 1963 heiratete sie erneut und nahm ihren Sohn zu sich. Mit Geburt ihrer Tochter Birgit im Jahr 1966 kam es zum Bruch mit den Eltern. Ein heftiger Sorgerechtsstreit um Udo, den Hedwig und Wilhelm nicht aufgeben wollten, entbrannte. Zurück blieben nur Verlierer. Bis zu Hedwigs Tod sprach Ilse nie wieder mit ihrer Mutter, die einst einmal ihre liebste Freundin gewesen war.

Auch Ilses zweite Ehe zerbrach, Tochter Birgit blieb bei ihrem Vater. Mit 40 Jahren realisierte Ilse all das, was sie sich als 19jährige erträumt hatte. Sie lebte allein, genoss Anerkennung im Beruf, reiste viel und ging aus. Sie war frei. Doch um welchen Preis?

Birgit hatte nie verstanden, warum sich Ilse so vehement gegen gut gemeinte Hilfe und Unterstützung wehrte. Wie konnte sie derlei mit „Einmischung“ gleichsetzen? Was war falsch daran, der Mutter, die vielleicht nicht mehr alle Anforderungen des Alltags bewältigen konnte, zur Hand zu gehen? Was war falsch daran, ihr manches abnehmen zu wollen? Irgendwann hatte sie kapituliert.

Birgit konnte nicht ahnen, dass Ilse darin Hedwigs einstiges Bemühen, sich zu kümmern, wiedererkannte. Ein Bemühen, das Ilse als Einmischung und Bevormundung betrachtete, ein Bemühen, das zu den größten Katastrophen ihres Lebens geführt hatte. Katastrophen, die mit etwas gutem Willen und der Bereitschaft zuzuhören vielleicht vermeidbar gewesen wären.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?

Einander zuhören und miteinander sprechen, so manches Zerwürfnis ließe sich dadurch verhindern. Die Generation der Kriegskinder hat diese simple Regel nie gelernt, dafür aber das Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ an die nächste Generation, die Kriegsenkel, weitergegeben.

Und die Klimakrise? Die lässt sich alleine durch Fragen und Zuhören natürlich nicht abwenden. Aber wer fragt und zuhört, versteht möglicherweise auch. Und findet dann die Argumente, die erhört werden. 

Es ist Zeit das Schweigen zu brechen.

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Und das Buch könnt Ihr HIER bestellen:

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Kriegskinder

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3 comments

  1. Diese “ Sprachlosigkeit“ ist logischerweise bedingt durch das traumatische Leben im Krieg. Wer das nicht kennt, kann weder urteilen und schon garnicht verharmlosen. Und die Großeltern haben dennoch oft darüber gesprochen mit den Enkeln. Meine Großeltern haben, getrennt voneinander, dieses Thema sehr offen kommuniziert. Sie konnten es nur nicht in Gegenwart des Partners bzw ihren eigenen Kindern gegenüber. Uns Enkeln gegenüber war es kein Problem.

  2. Meine Großeltern wurden alle als Kinder vom Krieg und teilweise anderen Dingen traumatisiert. Mussten fliehen, wurden ausgebombt, nahe Angehörige wurden getötet. Wie kann das keine Auswirkungen auf die folgenden Generationen haben? Ich muss dabei immer an die Kinder denken, die jetzt gerade in Kriegsgebieten traumatisiert werden…

  3. Ein sehr wichtiges Thema, das die Babyboomer und alle betrifft, deren Eltern vor Ende des 2. Weltkriegs geboren wurden. Die ersten guten Bücher dazu hat Sabine Bode in den 2000ern verfasst. „Kriegskinder – Die vergessene Generation“ sowie „Kriegsenkel – die Erben der vergessenen Generation“. Für alle, die Menschen aus dieser Zeit verstehen möchten, eine sehr wichtige Lektüre. Und es wirkt ja bis heute nach. Ich bin die Waisentochter einer Waisentochter. Meine Oma starb durch eine Bombe. Meine Mutter war damals erst 6 und starb früh an den Folgen ihres Traumas. Auch sie hat nie gesprochen. In den 80ern wurde immer noch nicht gesprochen und ich habe als Kind auch nicht sprechen gelernt. Das kam erst ab den 90ern mit gesellschaftlichen und persönlichen Veränderungen. Aber ein tiefgreifendes Verständnis kommt erst mit dem eigenen Eltern sein und älter werden. Gut ist, wenn die eigenen Eltern oder ein Elternteil noch lebt und dann diese Gespräche, wenigstens teilweise, möglich werden, bevor es zu spät ist.

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