Ihr Lieben, vor einem Monat hatten wir schon mal einen „Rare Disease Day„-Artikel, also eine Geschichte über eine höchst seltene Krankheit. Damals hat uns eine Mutter erzählt, wie lange es dauerte, bis sie für ihr Kind die Diagnose CMTC hatte.
Auch heute geht es um eine seltene Krankheit, die kleine Amélie ist am atypischen HUS erkrankt. Ihre Mama Julia berichtet uns davon, wie plötzlich diese Krankheit aufgetreten ist, wie bange die Tage im Krankenhaus waren und wie der Alltag mit dieser Krankheit aussieht.
Unser Wunschkind Amélie kommt zur Welt
„Mein Name ist Julia, ich bin 43 Jahre alt, meine älteste Tochter ist 18, mein Sohn 16, unsere gemeinsame Tochter ist 8 und wir leben in Bayern. Mein Mann und ich sind seit 2011 zusammen und 2014 kam unser absolutes Wunschkind Amélie zur Welt.
Die Schwangerschaft war völlig problemlos und sie war immer schon ein richtiger Sonnenschein, fröhlich, neugierig, unkompliziert und hatte nie größere gesundheitliche Probleme, war auch nicht öfter krank als andere Kinder in ihrem Alter. Dann kam Corona und wir alle dachten, dass es viel schlimmer gerade nicht kommen konnte – was in unserem Fall leider nicht stimmte…
Im Mai 2020 (da war sie fünf) an einem Freitagnachmittag fiel mir auf, dass Amélie an ihrem Schienbein zwei sehr starke blaue Flecken hatte – ohne in letzter Zeit hingefallen zu sein oder sich gestoßen zu haben. Am Abend hatte sie keinen Appetit, obwohl es Pommes gab, die sie eigentlich immer isst. Nachts musste sie auf Toilette, was sonst eigentlich noch nie vorgekommen ist…
„Wir wurden sofort in die Kinderklinik überwiesen„
Am nächsten Morgen wirkte sie abgeschlagen und hatte kleine Einblutungen im Gesicht. Das war der Grund, warum wir entschieden zum kinderärztlichen Notdienst zu gehen. Der Kinderarzt untersuchte sie und sagte wir sollen gleich in die Kinderklinik gehen, um ihre Gerinnung untersuchen zu lassen (zum Glück gibt es eine Universitätsklinik in unserer Stadt, die sich auch mit speziellen Erkrankungen sehr gut auskennt, das war in ihrem Fall wahrscheinlich ihre Rettung).
Wegen der Coronabestimmungen durfte leider nur ich mit ihr in die Klinik, mein Mann musste draußen warten. Gefühlt habe ich in dem Moment kaum etwas, ich habe nur funktioniert, kann aber trotzdem bis heute keine einzige Sekunde vergessen…
Mit Amélie in der Notfallambulanz
Der Arzt untersuchte unsere Tochter und nahm ihr Blut ab, das war für Amélie natürlich das Unangenehmste daran. Dann mussten wir auf das Ergebnis warten, nach kurzer Zeit kam der Arzt zu uns, wir saßen im Gang der Notfallambulanz, und sagte das Blut konnte nicht untersucht werden, weil es sofort geronnen ist.
Dass das nichts Gutes bedeutet, war mir sofort klar. Als Amélie verstand, dass sie nochmal gestochen werden musste, sprang sie auf, rannte raus und ich musste sie wieder zurückholen und ihr gut zureden, damit sie sich nochmal stechen ließ. Der Arzt sagte, er legt ihr jetzt gleich einen Zugang sicherheitshalber und bereitete uns darauf vor, dass wir stationär aufgenommen werden müssen.
„Die Blutwerte machten uns große Sorgen„
Dann kam raus, dass die Blutwerte alle sehr schlecht sind, unsere Tochter hatte unter anderem eine Hämolyse, das heißt die roten Blutkörperchen zerplatzen frühzeitig z.B. durch Antikörper im Blut, dadurch entstehen viele Symptome wie Milzvergrößerung, Gelbfärbung der Haut, lebensbedrohliche Blutarmut usw. Und genau diese Symptome hatte unsere Tochter inzwischen auch, ebenso wie einen blutroten Urin.
Meine Gedanken rasten, ich fühlte mich, als ob alles unter mir zusammenbricht und gleichzeitig musste ich versuchen vor Amélie stark zu sein und mir nichts anmerken zu lassen. Der Arzt sagte, sie wüssten noch nicht was die Ursache ist und behandelten sie jetzt wie ein rohes Ei.
Mit Amélie in die Reha
Dann mussten wir uns entscheiden wer mit ihr in der Klinik bleibt, der andere Elternteil (und sonst niemand) durfte nur ein bis zwei Stunden täglich zu Besuch kommen. Da ich zu diesem Zeitpunkt gerade noch eine ambulante Reha machte wegen einer Wirbelsäulenversteifung nach Bandscheibenvorfall und nicht schwer heben durfte, übernahm mein Mann das.
Amélie durfte leider nicht mal mehr alleine laufen und musste sogar auf Toilette getragen oder im Rollstuhl gefahren werden. Ich weiß nicht mehr, wie ich den Weg nach Hause geschafft habe, an diesem Tag hat sich unser Leben in einen Albtraum verwandelt…
Nachts gegen zwei Uhr rief mich mein Mann an und sagte, dass sie jetzt eine Bluttransfusion braucht und sie anfangen ihr eine Infusion mit einem monoklonalen Antikörper zu geben. Sie vermuteten eine von drei Erkrankungen, zum einen das infektiöse HUS (hämolytisch-urämische Syndrom), was durch EHEC-Bakterien ausgelöst wird. Aber da Amélie vorher keinen Durchfall hatte, erschien uns das gleich eher unwahrscheinlich.
„Unsere Tochter hatte ein Nierenversagen“
Dann gibt es das atypische HUS, was genetisch bedingt ist. Hier fehlen dem Körper wichtige Steuerungsproteine fehlen und dadurch das Komplementsystem, ein Teil des Immunsystems, überaktiv ist und die eigenen Organe angreift indem sich Blutgerinnsel bilden. Dies betrifft hauptsächlich die Nieren, kann aber auch alle anderen Organe wie das Herz oder das Gehirn betreffen.
Amélie hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein Nierenversagen Stadium 3 von 5. Wenn wir an diesem Tag nicht in die Klinik gegangen wären, hätte sie vielleicht nicht mehr überlebt. AHUS betrifft weniger als einen Menschen von 100.000.
Außerdem stand noch TTP im Raum, eine ebenso seltene, noch schwieriger zu behandelnde Erkrankung. In den ersten Tagen war noch nicht sicher, ob sie zusätzlich noch eine Plasmaphorese braucht, das ist eine Art Blutaustausch. Ihr wäre dann für zehn Tage in einer kleinen Operation ein Shunt in den Hals gelegt worden, das ist ihr aber zum Glück erspart geblieben.
Neue Medikation für unsere Kleine
Amélies Blut wurde dann an verschiedene Speziallabore in ganz Deutschland verschickt, am Mittwoch erfuhren wir, dass sie am atypischen HUS erkrankt ist. Behandelt wird diese Krankheit eben mit Infusionen mit einem monoklonalen Antikörper, zu der Zeit mit Soliris, was alle zwei Wochen gegeben werden muss. Ohne diese Infusion können die Nieren irreversibel geschädigt werden, so dass es zu einer Dialysepflichtigkeit kommen kann und ggf. sogar zu einer notwendigen Nierentransplantation.
Außerdem musste Amélie für drei Monate Cortison nehmen, Penicillin für fast neun Monate (durch die Infusionen hat sie ein sehr viel höheres Risiko an Hirnhautentzündung zu erkranken und bekam dann noch alle weiteren Impfungen gegen die weiteren Bakterienstämme, die das auslösen können, aber das ist natürlich auch kein 100%iger Schutz) und sie nimmt immer noch ein Immunsuppressiva, was eigentlich für Organtransplantierte vorgesehen wird. Dadurch wird ihr Immunsystem auf 60% runtergefahren, was sie natürlich anfälliger macht für Infektionen und starke Nebenwirkungen haben kann. Sie verträgt es zum Glück gut und ist trotzdem relativ stabil.
Immer wieder Untersuchungen und Blutabnahmen
Sie war insgesamt zehn Tage in der Klinik und danach musste sie alle zwei Wochen in die Tagesklinik für die Infusion. Diese dauerte mindestens 4-6 Stunden insgesamt und es war jedes Mal furchtbar, vor allem wegen dem Zugang legen, manchmal wurde sie mehrere Male von verschiedenen Ärzten gestochen, bis endlich der Zugang lag, teilweise sogar am Fuß.
Nach drei Monaten konnte glücklicherweise auf das Nachfolgemedikament ausgewichen werden, das heißt Ultomiris und muss nur noch alle acht Wochen gegeben werden, wir sind mittlerweile bei zehnwöchigen Abständen und seit einem Jahr kommt eine Krankenschwester bzw. ein Krankenpfleger zu uns nach Hause und gibt ihr die Infusion, was eine sehr große Erleichterung ist.
Nochmal Klinikkontrolle
Alle drei Monate müssen wir zur Kontrolle in die Klinik, hier wird auch immer eine Blutentnahme gemacht. Zum Glück sind ihre Werte seitdem stabil und sie kann ansonsten alles ganz normal machen. Trotzdem müssen wir es in der Schule, im Hort usw. immer ansprechen, damit gleich reagiert werden kann, sollten Symptome auftreten die auf eine Meningitis oder einen neuen Schub hindeuten könnten.
Wir hätten wirklich niemals geglaubt, dass wir mal in so eine Situation kommen würden… Auf einmal hatten wir ein Kind mit einer sehr schweren chronischen Krankheit, das sehr starke Medikamente nehmen muss um weiterleben zu können. Wobei wir natürlich von Herzen dankbar sind, dass es diese Medikamente hier gibt und sie auch von der Krankenkasse bezahlt werden! Eine Infusion kostet über 60.000€ und es gibt sie in Deutschland erst seit 2013. In vielen Ländern auf der Welt ist dieses Medikament leider nicht erhältlich…
„Uns hat die Krankheit als Familie noch enger verbunden“
Uns hat die Erkrankung als Familie noch enger zusammengeschweißt, ihre Geschwister wären von Anfang an sofort bereit dazu gewesen, ihr eine Niere zu spenden. Amélie kann die ganze Tragweite davon zum Glück noch nicht erfassen, aber je älter sie wird, umso mehr Fragen stellt sie dazu, die wir versuchen ihrem Alter entsprechend zu beantworten.
Manchmal fragt sie „Warum muss ich diese Krankheit haben?“, das fragen wir uns natürlich auch, aber auf diese Frage gibt es leider keine Antwort… Äußerlich ist ihr nichts anzusehen und sie kann zum Glück alles ganz normal machen, wie andere Kinder auch, darüber sind wir sehr glücklich.
Der „Rare Disease Day“ ist wichtig für Betroffene
Mir fiel es vor allem anfangs unheimlich schwer damit umzugehen, es hat mich traumatisiert, ich habe noch oft Schlafstörungen und Flashbacks, in denen alles wieder hochkommt auch wenn es nicht mehr so viel Raum einnimmt im Alltag und das Leben irgendwie weitergeht. Wenn wir in der Klinik sind oder sie ihre Infusion bekommt, ist es so als ob ich mich abspalten würde und neben mir stehe. Ich funktioniere dann einfach nur um für mein Kind stark zu sein…
Wie es weitergeht, wissen wir noch nicht genau. Da die Krankheit so selten ist, gibt es keine einheitlichen Richtlinien. Durch eine Gruppe mit anderen Betroffenen haben wir erfahren, dass bei einigen mit der Zeit aufgehört wird die Infusionen zu geben, bei anderen ist sie lebenslang geplant.
Theoretisch sind neue Schübe möglich, ausgelöst z.B. durch Infekte, hormonelle Veränderungen wie in der Pubertät oder in der Schwangerschaft bzw. nach der Geburt. Ich habe oft Angst vor der Zukunft, auch wie sie damit später umgehen wird. Es ist schwer mit einer so seltenen Erkrankung umzugehen und z. B. Informationen zu bekommen, auch unsere Kinderärztin kennt sich überhaupt nicht damit aus. Dadurch fühlt man sich oft alleingelassen. Umso wichtiger finde ich es dass es den Rare Disease Day gibt und man über seltene Erkrankungen berichtet. Ich danke euch, dass ich euch unsere Geschichte erzählen durfte…
1 comment
Liebe Julia,
danke, dass du davon erzählt hast und Alles Liebe für eure Amélie!