Ihr Lieben, natürlich ticken alle Kinder unterschiedlich. Die einen sind mutig, laut und stehen gerne im Mittelpunkt. Die anderen sind vielleicht eher introvertiert, stille Beobachter, tun sich schwer mit neuen Situationen. Nichts ist besser oder schlechter, nichts wertvoller. Alles hat seine Berechtigung und beides hat auch Vor- und Nachteile. Antje bezeichnet sich selbst und ihre Kinder als introvertiert – und sieht das als Glück. Warum das so ist, erzählt sie im Interview.
Liebe Antje, wie genau definierst du den Begriff „introvertiert“?
Introversion ist ein Merkmal unserer Persönlichkeit, also etwas ziemlich Grundsätzliches, das zum Beispiel auch auf Unterschiede in der Hirnaktivität zurückgeht. Es bedeutet grob gesagt, dass jemand seine Energie und Aufmerksamkeit eher nach innen richtet. Aber Introversion hat viele Facetten und Abstufungen und es gibt introvertierte Menschen, die man vielleicht nicht mal auf Anhieb als solche erkennt, Barack Obama etwa. Aber auch für ihn gilt: Extros ziehen Energie aus dem Zusammensein mit anderen, Intros wie er brauchen zum Auftanken Zeit für sich. Das ist für mich der deutlichste Unterschied.
Viele Eltern haben Angst, ihr introvertiertes Kind könnte untergehen, übersehen werden – haben es wilde, laute Kinder also leichter in Gruppen?
Vor allem in größeren Gruppen fühlen sich introvertierte Kinder oft nicht so wohl, besonders wenn sie sich vielen neuen Gesichtern gegenübersehen. Da haben es extrovertierte Kinder auf jeden Fall erstmal leichter. Allerdings sind introvertierte Kinder, unter anderem weil sie anderen Raum geben, meist auch sehr gute Teamplayer und das wissen auch andere Kinder zu schätzen.
Ein sehr wildes Kind kann eine Gruppe dagegen regelrecht sprengen. Aber übersehen wird es zumindest nicht: Es gibt Untersuchungen, dass Lehrer:innen sich am Ende des Schuljahres fast nur an die lauten Kinder ihrer Klasse erinnern, selbst wenn diese negativ aufgefallen sind, die Leisen aber haben sie schlicht vergessen.
Dein Buch heißt „Vom Glück, ein introvertiertes Kind zu haben“ – worin siehst du das größte Glück?
Das entsteht sicher aus dem Gesamtpaket ihrer Stärken: Introvertierte Kinder sind einfühlsam, unabhängig, fantasievoll, beharrlich und gelassen und gerade weil sie ihr Inneres nicht ständig nach außen kehren, immer für eine Überraschung gut. Eine Sache, die mir als Mutter ganz praktisch den Alltag erleichtert: Introvertierte Kinder langweilen sich seltener. „Mir ist langweilig“ höre ich von meinen Töchtern so gut wie nie. Sie müssen nicht bespaßt werden, sondern können sich gut selbst beschäftigen. Ihnen fällt aus sich heraus immer etwas ein, was sie tun können.
Viele Menschen raten ruhigen Kindern, doch endlich mal aus sich herauszugehen. Ist das falsch? Was sollte man stattdessen sagen?
Es ist vor allem sinnlos, denn kein Kind wird sich daraufhin anders verhalten und plötzlich geselliger oder mitteilsamer werden – selbst wenn es das vielleicht sogar möchte. Der Satz führt nur dazu, dass sich ein stilles Kind ungenügend oder falsch fühlt. Dass ein Kind mehr „aus sich herausgeht“, erreicht man nicht, indem man es dazu auffordert, sondern indem man die Bedingungen dafür schafft: also zum Beispiel durch ein sicheres Umfeld, in dem das Kind sich wohlfühlt und von sich aus beginnt, sich mitzuteilen.
Ich finde aber auch, dass wir Eltern uns immer hinterfragen müssen: Wollen wir, dass ein Kind aus sich herausgeht, weil es unglücklich in seinem Stillsein ist und offensichtlich darunter leidet, sich nicht mitteilen zu können? Dann sollten wir es natürlich unterstützen, „lauter zu werden“. Oder wollen wir nur, dass ein introvertiertes Kind, das eigentlich sehr zufrieden mit sich ist, die soziale Norm erfüllt?
Bedeutet „Stillsein“ auch immer gleich „wenig Selbstbewusstsein haben?“
Auf keinen Fall! Wir verwechseln Selbstbewusstsein zwar oft mit lautem oder forschem Auftreten, aber zum einen weiß man aus Studien, dass auch hinter einem „lauten“ Auftreten manchmal ein sehr fragiles Selbstbewusstsein steht, das nur nach außen überspielt wird. Und zum anderen bedeutet Selbstbewusstsein ja, sich selbst und seine Fähigkeiten zu kennen, sie wertzuschätzen und auf sie zu vertrauen. Warum sollte das nicht auch leisen Kindern möglich sein? Es sei denn, man redet ihnen ständig ein, sie müssten lauter sein als sie sind. Das nagt natürlich an ihrem Selbstbewusstsein.
Wenn ein Kind aber doch sehr sehr schüchtern ist, wie kann man es unterstützen?
Eine meiner Töchter geht zum Kickboxen, das hat ihre Schüchternheit auf jeden Fall gemindert, auch wenn sie immer noch da ist. Das heißt natürlich nicht, dass alle schüchternen Kinder zum Boxen müssen. Unsere Tochter wollte das von sich aus – und ist trotzdem erst hingegangen, als sie ihre Freundin davon überzeugt hatte mitzumachen; allein hätte sie sich nicht getraut. Solche Hürden sind bei schüchternen Kindern nun mal da. Weil Sicherheit im Umgang mit anderen auch Übungssache ist, hilft jeder positive soziale Kontakt. Zum Beispiel eben beim Sport oder anderen Hobbies, die gemeinsam ausgeübt werden. Aber sie müssen auch zu dem passen, was das Kind interessiert und ihm liegt.
Du selbst bezeichnest dich auch als introvertiert. Hattest du in deiner Kindheit deshalb eher Vorteile oder Nachteile?
Ich komme aus einer ruhigeren Familie, in der meine Art nicht besonders aufgefallen ist und außerdem jede:r so sein durfte, wie sie oder er eben ist. Ich habe mich also lange gar nicht als introvertiert wahrgenommen, sondern als völlig normal. Dass ich mit meiner Art oft von anderen übersehen oder unterschätzt werde, habe ich erst so richtig als Teenager gemerkt und auf jeden Fall als Defizit empfunden. Die Vorteile, die Introversion mit sich bringt, habe ich dann erst später erkannt, als ich erwachsen war.
Und wie ist das heute? Welche Stärke bringt dir diese Ruhe?
Gelassenheit. Intros gelten oft als passiv oder langsam, aber nicht sofort auf alles anzuspringen, direkt zu handeln und aktiv werden zu müssen, sondern Dinge auch erstmal zu beobachten, auf sich wirken zu lassen, zu durchdenken und bei allem, was um einen passiert, stets bei sich zu bleiben, ist ein guter Stresspuffer. Vor allem in dieser hektischen Zeit.
Welches Gefühl sollen Eltern nach der Lektüre deines Buches haben?
Das Gefühl, ein großartiges stilles Kind zu haben, das genau richtig ist, wie es ist, und von dem sie sogar einiges lernen können.
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Informationen zur Autorin: Antje Kunstmann, geboren 1974, ist Redakteurin bei der Brigitte, im Ressort Gesundheit. Außerdem schreibt sie regelmäßig zu den Themen Psychologie, Familie und Erziehung. Sie ist promovierte Biologin, lebt in Hamburg und hat vier Kinder. Alle sind eher introvertiert, genauso wie ihre Mutter.
4 comments
Mein Mann ist extrovertiert und ich introvertiert. Unsere 6-Jährige kommt total nach ihm, freundet sich schnell an, wenn etwas nicht stimmt, dann zeigt oder sagt sie es auch und um ganz zufrieden zu sein, ist es nötig, immer mit anderen Action zu erleben. Das laugt mich an manchen Tagen aus und da brauche ich Ruhe, um mein Energielevel aufzutanken. Ich beneide Eltern mit introvertierten Kindern, weil ich mich genau in diese hineinversetzen kann. Mir fällt es schwer, nachzuvollziehen, so voller Tatendrang zu sein, es explizit auszudrücken und immer mitten Mang zu sein.
Als introvertierte Mama von 3 introvertierten Kindern (die auch Biologin ist und ihr Geld mit Schreiben verdient) muss ich das Buch wohl einfach lesen… Danke für den Tipp!
@Sarah: Hier genau umgekehrt, introvertierter Papa, extrovertierte Mama, introvertierte 6-jährige.
Ich habe erst lernen müssen, mein Kind zu verstehen und zu begleiten und hatte auch vor dem diesjährigen Schulstart großen Bammel (worst case „sie findet keinen Anschluss und wird ein Streber-Einzelgänger“).
Inzwischen weiß ich aber ganz gut, wo Sie Ermutigung, Zeit oder einfach Akzeptanz braucht.
Unser Sohn ist introvertiert und ein ganz wunderbarer Mensch.
Diese Art hat so tolle Eigenschaften.
Introvertiert sein ist auf gar keinen Fall ein Mangel.