Ihr Lieben, heute möchten wir euch eine Familie vorstellen, die uns sehr am Herzen liegt. Zum einen, weil sie gleich im ersten Kapitel unseres Buches „Wir alle sind Familie“ vorkommt, zum anderen, weil ich persönlich mit ihr befreundet bin. Meine kleinste Tochter und ihre Tochter Mia gehen in die gleiche Kita und mögen sich richtig, richtig gerne. Mia hat eine Zerebralparese, ist durch ihre Behinderung körperlich stark eingeschränkt, hat schon so einige Kämpfe hinter sich – aber definitiv ihr strahlendes Lachen und ihre Lebensfreude beibehalten. Ihre Eltern Jasmin und Marcel wurden von einer Sekunde auf die andere in ein Leben mit einem behinderten Kind katapultiert, denn lange Zeit sah es so aus, als sei Mia ganz gesund. Heute erzählen sie uns hier ihre Geschichte.
Liebe Jasmin, eure Tochter Mia ist fünf Jahre alt und hat eine Zerebralparese. Kannst du beschreiben, was das für körperliche Auswirkungen hat?
Die Frage scheint so simpel, hat es aber ganz schön in sich. Ganz knapp und aus der Sicht einer Physiotherapeutin würde ich sagen: „Mia ist motorisch auf dem Stand eines etwa sieben Monate alten Babys.“ Komplett selbstständig kann sie sich vom Rücken auf den Bauch drehen (und umgekehrt) sowie sich auf den Unterarmen robbend fortbewegen.
Etwas detaillierter erklärt, ist eine Zerebralparese zunächst ein Überbegriff für vom Gehirn ausgehende Lähmungserscheinungen, welche sich auch als unwillkürliche Anspannung von Muskeln (Spastik) äußern kann. Werden die von der Spastik betroffenen Muskeln nicht regelmäßig gedehnt, so drohen sie zu verkürzen und auf lange Sicht einfach fest zu werden (auch Kontraktur genannt).
In Mias Fall sind alle vier Gliedmaßen davon betroffen, sowie Teile ihres Rumpfes und ihres Kopfes. Die Ausprägung ist allerdings je nach Körperregion sehr unterschiedlich. So kann sie zum Beispiel mit der linken Hand feinmotorische Spiele spielen und einigermaßen gut essen, mit der rechten Hand aber fällt ihr jede kontrollierte Bewegung sichtlich schwerer (die Hand wird quasi ausgeblendet).
Dies führt dazu, dass sie die für andere Kinder selbstverständlichen Dinge des Lebens wie Anziehen, Essen, Trinken, Laufen, Spiele spielen, nur mit fremder Hilfe machen kann. Durch tägliches Dehnen und Trainieren (und teils auch operative Eingriffe) arbeiten wir gezielt gegen die Verkürzung ihrer Muskeln an, sodass sie weitestgehend ihren willkürlichen Bewegungsumfang halten oder bestenfalls ausbauen kann.
Die Schwangerschaft verlief total unproblematisch, aber Mia kam im sechsten Monat zur Welt. Wann wurde euch klar, dass Mia nicht ganz gesund ist?
Ich lag einen Monat mit Mia im Bauch im Krankenhaus. Wir haben ihre Geburt so gut es ging hinausgezögert. Sie kam zwar als Frühchen, aber als gesundes Mädchen auf die Welt. Ohne Hirnblutungen. Ohne Auffälligkeiten. Bei der Abschlussuntersuchung nach 1,5 Monaten Intensivstation standen wir mit Koffer im Krankenhaus, um sie nach Hause zu holen, als es plötzlich hieß: „Moment, wir haben da was gefunden. Sie hat eine Engstelle an der Aorta und muss in den nächsten Tagen operiert werden. Außerdem haben wir Zysten in der weißen Substanz im Gehirn entdeckt. Kurz: Ihre Tochter wird niemals laufen können.“ Dieser Satz hallt noch immer in meinen Ohren nach. Von dem Moment an hat sich unser Leben schlagartig geändert.
Kannst du uns über eure Gefühle und Gedanken damals erzählen?
Ich fühlte mich wie eingefroren, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Wie in einem schlechten Film, da es bis dahin immer hieß: „Mia macht das so gut, sie ist so ein taffes Mädchen.“ Es folgte ein zweiminütiger, mit vielen Fachbegriffen gefüllter, Monolog der sehr unempathischen Ärztin. Keine Zeit für weitere Erklärungen oder Nachfragen, denn sie musste ja weiter.
Für Traurigkeit war keine Zeit. Mia wurde innerhalb von zwei Tagen am Herzen operiert. Es fanden viele Aufklärungsgespräche statt. Du funktionierst du einfach und hast keine Zeit zu verarbeiten, was gerade passiert. Mias Papa Marcel und ich ergänzten uns in dieser Zeit wunderbar, da wir uns gegenseitig den Rücken stärken konnten und nicht gemeinsam in ein Loch fielen. Ihn bedrückte die Herz-OP, die mir wiederum weniger Sorgen bereitete. Ich zerbrach mir den Kopf über die Zysten und die damit verbundene nicht aussagekräftige Prognose über Mias zukünftiges Leben.
Als Stepptänzerin hatte ich immer den Traum mit meiner Tochter gemeinsam zu tanzen. Innerhalb weniger Sekunden platzte dieser Traum. Jetzt weiß ich: der Traum ist nicht wirklich geplatzt! Wir erleben ihn nur anders als in meinen damaligen Ideal-Vorstellungen. Mia tanzt leidenschaftlich. Auf ihre Art. Nicht ohne Hilfe und auch ohne Steppschuhe, aber mit dem größten Lächeln im Gesicht und darauf kommt es uns an!
Welche Prognosen gaben die Ärzte damals und wie hat sich Mia bisher entwickelt?
Da eine infantile Zerebralparese so unterschiedliche Verläufe haben kann, trauen sich Ärzte nur sehr ungern, Prognosen abzugeben. „Kann“ und „könnte“ sind Tagesordnung. Mia ist schwer betroffen. Alle vier Gliedmaßen, selbst das Zwerchfell wird von der Spastik beeinflusst. Wie und ob sie selbstständig leben kann, ist unklar.
Durch Mias tägliche Therapien bekommen wir von Ärzten bei bestimmten Untersuchungen oder auch zur Einschätzung für operative Maßnahmen zu hören, dass sie sich – für ein Mädchen mit derartig ausgeprägter Zerebralparese – außergewöhnlich gut hält und dass sie mit ihrer Diagnose deutlich schlimmere Fälle gesehen haben. Das gibt uns Mut und zeigt uns, dass wir mit ihr auf dem richtigen Weg sind.
Nun habt ihr vor neun Monaten noch ein Kind bekommen. Wie anders erlebst du diese Mutterschaft?
Vor der zweiten Schwangerschaft habe ich einige Trauma-Therapiesitzungen gemacht, um so unbeschwert wie möglich eine weitere Schwangerschaft erleben zu können. Durch Mias Frühgeburt war die zweite Schwangerschaft automatisch eine Risikoschwangerschaft und ich musste von Anfang an zusätzlich Hormonpräparate zu mir nehmen. Noah kam nur drei Wochen zu früh. Aus Angst habe ich mich für einen Kaiserschnitt entschieden. Ich wollte jedes Risiko einer Sauerstoffunterversorgung ausschließen.
Noah bringt Leichtigkeit in unser Leben. Ein Kind, das dir hinterher krabbelt und an deinem Hosenbein zieht oder selbstständig die Schränke aufmacht und ausräumen kann. Es fühlt sich total verrückt und surreal an, seinem Kind bei dem Erlernen neuer Bewegungen zuzusehen und diese nicht über Monate gemeinsam mit viel Anstrengung zu trainieren.
Wir erleben viele „erste Male“ mit ihm. Bei Mia mussten wir uns z.B. nie Sorgen machen, dass sie sich selbstständig aus dem Bett rollt. Noah können wir aktuell kaum eine Sekunde aus den Augen lassen. Es ist total schön und gleichzeitig anders herausfordernd!
Mia und Noah sind ein Herz und eine Seele. Sie lachen zusammen und robben gemeinsam durch die Wohnung. Wir sind total happy!
Unsere Töchter sind ja richtig gut befreundet, natürlich weiß meine Tochter, dass Mia einige Dinge nicht so kann wie sie, aber es stört sie in keinster Weise bzw. es ist eigentlich auch nie ein Thema bei ihr. Wir haben auch das Glück, dass die beiden in einem tollen Kindergarten sind. Ist das Inklusion, wie du sie dir wünscht?
Ja, das sind bereits wichtige Schritte in die richtige Richtung. Gelungene Inklusion hängt von so vielen Parametern ab. Angefangen damit, dass die Kita barrierearm ist, d.h. einen Fahrstuhl hat, ausreichend große Räume und Wege, geeignetes Spielzeug, das Mia greifen kann, sowie einen großen Außenbereich, in dem Mia mit dem Gehwagen auch selbstständig die Umwelt erkunden kann.
Die Erzieherinnen haben keine Berührungsängste, sind offen und interessiert daran, dazu zu lernen (denn die Ausbildung zum*r Integration-Erzieher*in ist „nett“, aber macht dich noch lange nicht zum Profi!) und wissen durch den Austausch mit Mias Therapeut*innen, wie sie sie fördern und aber auch im Kita-Alltag (heraus)fordern können.
Anders als viele Erwachsene sehen die Kids in Mia nicht das Mädchen mit einer schweren körperlichen Behinderung. Das liegt einerseits bestimmt daran, dass auch deren Eltern, dem Thema Inklusion offen gegenüberstehen, schließlich haben sie sich für eine Montessori-Kita entschieden. Andererseits ist die Behinderung eben auch nur eine Eigenschaft von vielen, die Mia ausmachen.
Sie haben kein Mitleid mit ihr! Sie helfen ihr, wenn sie eine Karte beim Memory nicht gut greifen kann, sie feiern es, wenn Mia mit einem neuen Hilfsmittel in die Kita kommt und wollen es alle selbst ausprobieren oder sagen ihr auch mal ganz trocken „Ich hab jetzt keine Lust mit dir zu spielen“, wenn Mia in Dauerschleife Rollenspiele spielen möchte.
Ja, Mia hat eine Behinderung, deshalb muss sie aber nicht in Watte gepackt werden. Sie ist ein ziemlich schlaues Mädchen und versucht wie jedes Kinder in ihrem Alter ihre Erzieherinnen auch mal gegeneinander auszuspielen oder auszutricksen. Begegnungen zu schaffen (für Groß und Klein) ist wichtig, damit der alltägliche Umgang mit Menschen mit einer Behinderung sich wie das Natürlichste der Welt anfühlt.
Ihr seid ja auch eine Familie, die bei uns im Buch vorkommt – warum hast du sofort zu gesagt, als ich dich gefragt habe, ob ihr dabei seid?
Weil ich sofort verstanden habe, wie wichtig dieses Buch ist! Akzeptanz und Verständnis sind der Schlüssel zu einer inklusiven und diskriminierungsfreien Welt! Es gibt nicht nur die „normale“ Familie. Nur woher sollen wir oder unsere Kinder das wissen, wenn wir keine Berührungspunkte damit haben?
Für uns, als Eltern von Mia, ist es ein Weg der Welt zu sagen: Hey, wir haben ein Kind mit einer Behinderung und sind eine glückliche Familie! Unser Alltag ist oftmals herausfordernd, aber wir brauchen kein Mitleid oder ein beschämtes und aus Unsicherheit hervorgerufenes Wegschauen. Wir möchten von euch gesehen, ernst genommen und unterstützt werden. Dafür kämpfen alle Menschen mit einer Behinderung oder deren Eltern.
Aus diesem Grund haben wir auch unseren Instagram-Kanal gestartet. Wir erzählen von unserem Alltag, z.B. von den Entscheidungen die wir bezüglich Operationen und Hilfsmitteln treffen müssen oder wie vielen unnötigen, bürokratischen Kämpfen wir tagtäglich mit Krankenkassen, Ämtern und Sanitätshäusern ausgesetzt sind.
Du hast das Buch ja schon gesehen – wie gefällt es dir?
Ich bin begeistert. In diesem Buch steckt so viel Liebe. Als ich das erste Mal unsere Geschichte gelesen habe, kullerten mir die Tränen übers Gesicht. Es ist total nahbar und verständlich für Kinder geschrieben, aber auch wir als Eltern können so viel mitnehmen. Ich selbst habe durch das Buch Familienkonstellationen kennenlernen dürfen, die ich vorher nicht kannte. Danke dafür!
Für alle, die mehr über diese tolle Familie erfahren wollen: HIER IST DER INSTAGRAM ACCOUNT oder natürlich über unser Buch.
3 comments
Tolles Interview!
Wenn ich daran denke. Jasmin, damals als du meine Zimmernachbarin warst😄. Oh man ihr seid so stark und finde es wirklich toll, dass ihr so offen damit umgeht und aufklären wollt, wie wir.
Bleibt so wie ihr seid ❤️
Sehr schöner Bericht! Ich finde uns sehr darin wieder. Wir sind auch eine sehr glückliche Familie mit einem öfters herausfordernden und trotzdem schönen Alltag.
Liebe Grüße und alles Gute für die Zukunft (mit vielen schönen Überraschungen;-)) für die Familie!
Danke, wie wunderbar! Natürlich bringt auch das Leben mit behinderte Kind Arbeit und Verantwortung mit sich, wie bei jedem Kind. Ich finde es nur traurig, daß man sich für jede positive, fröhliche Meinung oder Aussage rechtfertigen muss. Nein das hat nichts mit Realitätsverdrängung zu tun, sondern ist ganz normal Familie wie anderswo auch! Und macht Freude wie in jeder “ normalen “ Familie auch. Eltern von behinderten Kindern müssen nicht ständig niedergeschlagen und traurig sein!!! ( weil die Anderen von außen damit nicht umgehen können)