Ihr Lieben, immer wieder sind wir sehr berührt von euren Familiengeschichten. Ein großes Anliegen ist es uns, den Familien mit pflegebedürftigen Kindern eine Stimme zu geben. Ihre Care-Arbeit, ihre Leistung, ihre Hingabe wird viel zu oft übersehen. Heute erzählt uns Sabine von ihren Zwillingen, ein Mädchen kam gesund zur Welt, das andere nicht. Wir danken dir für eine Offenheit, liebe Sabine!
Liebe Sabine, erzähl uns mal von dem Moment, als dir zum ersten Mal gesagt wurde, dass dein erstes Kind nicht eins, sondern zwei werden: Zwillinge. Wie hast du reagiert, was hast du gefühlt?
Das war anfangs ein ziemlicher Schock. Ich war in der Mittagspause kurz bei meiner Frauenärztin, die mir dann eröffnet hat, dass ich Zwillinge bekommen werde. Ich bin wie in Trance ins Büro zurück und hab am Schreibtisch erstmal geheult. Dann stand plötzlich eine liebe Kollegin bei mir und fragte, was los sei. Als ich es ihr erzählt habe, hat sie mich gepackt und ist mit mir nen Kaffee trinken gegangen. Und dann sagte sie: „Wenn jemand genug Power für Zwillinge hat, dann du!“ Und ich glaube, sie hat(t)e Recht. Wir haben uns jedenfalls recht bald an den Gedanken gewöhnt und uns gefreut.
Zunächst lief alles unauffällig in der Schwangerschaft, bis in der 23. Woche plötzlich die Rede von einem „schweren Befund“ bei einem der Zwillingsmädchen gesprochen wurde. Viele beschreiben so einen Moment so, als würde sich der Boden auftun. Wie war das für dich?
Das war völlig surreal. Meine Frauenärztin hatte mich zum Pränataldiagnostiker geschickt für einen großen Ultraschall – weil man das bei Zwillingen eben so mache. Ich hab mir da nicht groß was gedacht. Ich bin gesund, mein Mann ist gesund, wir waren Anfang 30 und die Schwangerschaft total unproblematisch. Dass es auch einfach Launen der Natur gibt, war mir bis dahin nicht klar.
Jedenfalls lag ich ziemlich lange beim Ultraschall und wir wurden dann nochmal rausgeschickt. Auch da war für mich alles noch in Ordnung. Erst als der Arzt anfing, die Lage der beiden Zwillinge im Bauch aufzumalen und zu berichten, dass bei Kind Zwei alles bestens sei, kam mir das komisch vor. „Wieso fängt der jetzt bei Kind Zwei an?“ hab ich mich noch kurz gefragt. Und dann kam dieser Satz und da ist buchstäblich die Welt stehen geblieben. Er hat uns dann eröffnet, dass unsere Tochter einen so genannten Hydrocephalus hat, einen „Wasserkopf“. Ich wusste bis dahin überhaupt nicht, was das ist.
Schnell stand auch ein Spätabbruch im Raum, der zum Schutze des zweiten Zwillings erst in der 32. Woche würde stattfinden können. Was hat diese Aussagen, diese Option mit dir gemacht?
Das ist eine unfassbar schwierige Situation. Auf der einen Seite gab es bei den ganzen Ärzten, die wir gesehen haben, nur einen, der positive Dinge über Kinder mit dieser Erkrankung berichten konnte. Die Entwicklungsmöglichkeiten reichen von „keine Beeinträchtigungen“ bis „schwer pflegebedürftig“. Ich hab wie eine Verrückte dazu recherchiert, aber wie das im Netz so ist – da findet man häufig nur die problematischen Fälle.
Ich hatte Angst um meinen Job, meine Existenz – um alles. Außerdem hatte ich Angst, dass die gesunde Schwester auch im Krankenhaus aufwachsen wird und das wollte ich nicht. Gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen, dem gesunden Kind irgendwann sagen zu müssen, dass es eigentlich eine Zwillingsschwester hätte haben sollen – und wir entschieden haben, dass es diese nicht geben sollte.
Sehr geholfen hat mir damals die Schwangerenkonfliktberatung von pro familia. Da war jemand, der mir auch konkret Fragen beantworten konnte, was passieren würde, wenn ich mich gegen das zweite Kind entscheiden würde. Also Fragen wie: Wie und wo würde das Kind bestattet werden? Muss ich dem Kind einen Namen geben? Das klingt alles ganz schön krass, aber mir hat es sehr geholfen, darauf Antworten zu bekommen.
Es kam dann doch alles anders und in der 27. Woche waren plötzlich beide Mädchen auf der Welt! Erzähl mal, wie es dazu kam.
Das ist eine gute Frage. So genau weiß ich das eigentlich nicht. Ich lag schon im Krankenhaus mit ner Gebärmutterhalsverkürzung. Der Tag hatte nicht gut begonnen, man hatte mir meine Zimmergenossin genommen, weil man festgestellt hatte, dass sie einen multiresistenten Keim hatte. Wir hatten uns gut verstanden und schon zwei Wochen zusammen verbracht. Ich war also allein und hatte schon morgens Rückenschmerzen, hab das aber auf das viele Liegen geschoben.
Am späten Nachmittag bekam ich dann Bauchschmerzen. Auf der Station wurde das erst nicht so ernst genommen und auf meine psychische Belastung geschoben, auch, weil bei der Untersuchung an dem Tag alles so weit unauffällig war. Also bekam ich erstmal ein Beruhigungsmittel, das natürlich nicht geholfen hat. Nachdem ich darauf beharrt hatte, dass ich Bauchschmerzen hätte, hat man mich dann doch abends gegen 19 Uhr in den Kreißsaal gebracht – und dort auch gleich behalten. Zuerst haben die Ärzte noch versucht, mit Wehenhemmer die beginnende Geburt aufzuhalten – das hat aber überhaupt nicht funktioniert.
Du hattest dann plötzlich zwei Extrem-Frühchen, wie waren die ersten Tage für dich?
Schlimm. Ich war körperlich wirklich am Ende. Wir hatten eine natürliche Geburt versucht, die dann in einem Not-Kaiserschnitt endete. Die Mädels hatten Blutergüsse am ganzen Körper und mussten deshalb im Brutkasten unter UV-Licht liegen. Ich hab mich anfangs gar nicht getraut, sie anzufassen.
Am Abend nach der Geburt hatte ich einen richtigen Zusammenbruch. Da lag ich völlig fertig vom Tag auf der Neo und mit Fieber im Bett und dann wurde in mein Zimmer eine Frau gebracht, die nach einem geplanten Kaiserschnitt das blühende Leben war. Ich habe dann mit ziemlichem Nachdruck und vielen Tränen um ein Einzelzimmer gebeten, das ich auch bekommen habe. (Glücklicherweise konnte ich mich noch bei der Frau entschuldigen, sie konnte ja nichts für die Situation!)
Welche Diagnose wurde für deine Mädchen gestellt?
Meine Mädels waren 880 und 950 Gramm „schwer“ als sie zur Welt kamen. Wir hatten sehr viel Glück im Unglück, denn die beiden mussten nicht invasiv beatmet werden (ich hatte vorher mehrfach Spritzen für die Lungenreife bekommen). Wir hatte natürlich die üblichen Frühchen-Sachen: Wackelige Herzfrequenz, anfangs Probleme mit der Verdauung, Bluttransfusionen – das volle Paket, das die Neo-Intensiv so mit sich bringt.
Der Hydrocephalus hat sich bestätigt. Das ist eine Störung im Hirnwasserkreislauf die dafür sorgt, dass das Hirnwasser nicht abfließen kann. Dadurch staut es sich und drückt aufs Gehirn. Bei Babys wächst dadurch der Kopf und wird unnatürlich groß. Der Druck kann verschiedenste Schäden am Gehirn hinterlassen. Üblicherweise wird dagegen ein Schlauch implantiert, der das überschüssige Wasser in den Bauchraum ableitet, wo es vom Körper verarbeitet wird. Dafür war sie zu dem Zeitpunkt aber noch zu klein.
Also hat man ihr erstmal eine so genannte Rickham-Kapsel in die Kopfhaut implantiert und darüber Hirnwasser punktiert, also abgezogen. Den Shunt (wird in der Medizin eine Kurzschlussverbindung mit Flüssigkeitsübertritt zwischen normalerweise getrennten Gefäßen oder Hohlräumen bezeichnet) hat sie erst eine Woche vor Entlassung, also mit knapp drei Monaten bekommen.
Welche Auswirkungen hat das auf dein erstes Zwillingsmädchen fürs Leben?
Sie ist in den ersten drei Lebensmonaten drei Mal am Gehirn operiert worden. Ursächlich für den Hydrocephalus ist wahrscheinlich eine Hirnblutung während der Schwangerschaft. Sie hatte während der Zeit auf der Neo eine weitere Hirnblutung, so dass man nicht genau sagen kann, ob die Erkrankung selbst oder die Hirnblutungen oder die OPs, die ja auch Narben am Gehirn hinterlassen, für ihre körperlichen Einschränkungen verantwortlich sind.
Sie hat eine leichte Halbseitenlähmung rechts (nicht so schlimm ausgeprägt, sie kann laufen, rennen, Radfahren usw., aber sie läuft „unrund“ und ist viel schneller erschöpft als ihre gesunde Schwester). Zudem hat sie natürlich dieses Implantat, das man Shunt nennt. Das ist in den ersten Lebensjahren anfällig für Komplikationen, so dass wir gerade das erste Jahr ziemlich in Habacht-Stellung verbracht haben.
Wir hatten uns einigermaßen mit all dem arrangiert, als sie kurz vor ihrem zweiten Geburtstag zum ersten Mal einen Krampfanfall hatte – Epilepsie ist ein häufiger Begleiter bei HC-Kindern. Glücklicherweise haben wir relativ bald ein Medikament gefunden, das sie gut verträgt und das seit drei Jahren die Anfälle unterdrückt.
Dazu kommen kleinere Sachen, die Kinder mit der Grunderkrankung häufig haben, also z.B. Schwierigkeiten mit der Orientierung oder manchmal Probleme mit dem Gleichgewicht. Es ist eher eine „unsichtbare“ Behinderung. Sie bekommt einmal in der Woche Physio- und Ergotherapie und für die Schule werden wir eine Assistenz beantragen. Kognitiv ist sie glücklicherweise nicht beeinträchtigt.
Denkst du manchmal noch darüber nach, wie es wäre, wenn sie nicht so früh gekommen wären? Wenn ihr euch doch noch für oder gegen einen Spätabbruch hättet entscheiden müssen?
Eigentlich nicht. Ich kann aus heutiger Perspektive immer noch nachvollziehen, was mich dazu gebracht hat, darüber nachzudenken: Mangelnde Aufklärung. Denn es wurde zwar sehr schnell die Option des Spätabbruchs erwähnt, aber es war nie jemand da, der z.B. Kontakt zu anderen betroffenen Familien hergestellt hat. Dabei ist ein HC nun keine seltene Erkrankung, gerade Frühchen haben das häufig. Gleich nach der Geburt wusste ich aber, dass es so besser ist – egal, was kommen würde. Und die drei Monate auf der Neo waren wirklich hart..
„Zu viele Familien mit pflegebedürftigen Kindern laufen am Limit“, sagst du. Es soll hier nicht nur um dich und euch gehen, sondern auch um andere.
Ja, das stimmt. Ich habe das Glück, dass ich als Journalistin seit der Geburt meiner Tochter viel zu den Themen Leben mit Behinderung, Inklusion und Pflege arbeiten kann. Dadurch, dass ich selbst betroffen bin, fällt es mir wahrscheinlich auch leichter, einen Zugang zu den Familien zu finden.
Ich hab zum Beispiel vor einiger Zeit eine Mama getroffen, deren vierjähriger Sohn durch einen Badeunfall im Wachkoma lag. Die Familie musste wochenlang im Kinderhospiz ausharren, weil sie keinen Pflegedienst für zu Hause gefunden haben. Das ist so ein riesiges Problem, die Pflegedienste können die Nachfrage nicht decken. Und dabei gibt es durch die Fortschritte der Medizin gerade in der Frühchen-Versorgung immer mehr Kinder, die Unterstützung und Pflege brauchen. Meist leisten diese die Mütter, die dafür ihren Beruf aufgeben (müssen) und nicht selten in ein Burnout rutschen oder zumindest sozial vereinsamen. Das ist echt ein ungesehenes Drama in dieser Gesellschaft, für das ich leider auch keine Lösung weiß.
Ganz schwierig ist es, wenn Kinder mit komplexen Erkrankungen volljährig werden. Erstens wird die medizinische Versorgung dann häufig kompliziert, weil sich die sozialpädiatrischen Zentren eben nur um Kinder/Jugendliche kümmern. Außerdem gibt es nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten, so dass häufig die Eltern bis ins hohe Alter pflegen. Aber was passiert, wenn die nicht mehr können? Je mehr man da gräbt und zuhört, umso größere Probleme tun sich auf.
Super, dass du auch das ansprichst und dir auch dafür noch Zeit nimmst. Immerhin ist nach deinen Zwillingsmädchen im letzten Jahr noch ein kleines Wunder dazugekommen in eurer Familie…
Oh ja, wir haben letztes Jahr noch ein drittes Mädchen bekommen. Ganz undramatisch. Das tut echt gut, wenn man mal zum Kinderarzt gehen kann ohne Angst haben zu müssen, was der nun wieder finden könnte. Das erste Jahr haben wir trotz Corona alle sehr genossen…
1 comment
Danke für den informativen Beitrag.
In wenigen Städten gibt es übrigens auch Zentren für Erwachsene mit komplexen Erkrankungen/Behinderungen. Sozusagen SPZ für Erwachsene. Zum Beispiel in Kassel.