Aufgewachsen bei den Zeugen Jehovas: „Ich musste da raus“

Betende Frau

Symbolfoto: pixabay

Meine Eltern haben sich den Zeugen Jehovas (ZJ) angeschlossen, als ich zwei Jahre alt war. Ich kannte als Kind also nichts anderes. Damals gingen Kinder der ZJ nicht in den Kindergarten, um sie so lange wie möglich von den Einflüssen der „Weltmenschen“ (so nennen die ZJ Andersgläubige), fernzuhalten.

Als ich dann in die Schule kam, merkte ich natürlich, dass ich anders war als die anderen Kinder. Viele kannten sich bereits aus dem Kindergarten, sie spielten nach der Schule zusammen, sie gingen gemeinsam zu Kindergeburtstagen. All das machte ich nicht mit, das war einfach so.

Meine Kindheit: Schüchtern und ängstlich

Ich war ein schüchternes und ängstliches Kind, eigentlich wie gemacht dafür, ein Außenseiter zu sein. Ich hatte damals das Glück, dass in meiner Klasse in der Grundschule noch ein Mädchen der ZJ war, sie war damals meine Freundin. Allerdings war das so, weil wir die beiden einzigen ZJ im selben Alter waren. Darum waren wir befreundet. Wir hatten eigentlich überhaupt nichts gemeinsam. Aber mit den meisten anderen Kindern durfte ich nicht spielen. Meine Eltern hatten Sorge, es würde schlechten Einfluss auf mich ausüben. Ich wurde eigentlich relativ lange in einer Art Blase gehalten. Ich war noch zu klein, ich merkte das nicht wirklich.

Ich war dann ca. 14, als ich mich so richtig verknallt habe. Eigentlich sogar fast in einem erlaubten Rahmen, denn die Mutter des Jungen war auch bei den ZJ. Ich habe mich dann mit 15 Jahren als Zeugin Jehovas taufen lassen. Damit überschreitet man eine Grenze, von da an gibt es kein Zurück. Man gilt dann als vollwertiges Mitglied, die Regeln werden härter durchgesetzt, als wenn man noch nicht getauft ist.

Zum ersten Mal verliebt: in einen Ungetauften

Das Ausmaß war mir damals noch nicht bewusst. Man ließ sich halt irgendwann taufen, das war einfach so. Alle freuen sich dann, die Eltern sind stolz. Welches Kind möchte das nicht? Von da an war dieser Junge aber nichts mehr für mich. Wir hatten damals eine harmlose Brieffreundschaft, aber auch das war schon tabu für mich, denn er war nicht getauft. Und damit kein Mann zum Heiraten.

Darüber denkt man normalerweise in diesem Alter noch lange nicht nach, aber auch das ist bei den Zeugen Jehovas anders. Da geht es schon sehr früh darum, einen Mann zu finden, denn mit 18 Jahren wird oft schon geheiratet. Sex vor der Ehe ist verboten, da bleibt einem keine Wahl.

Ich merkte damals so langsam, dass ich nicht so ganz in das Muster passe, denn ich war verliebt und wollte mit dem Jungen gehen. Aber ich durfte nicht, also traf ich ihn heimlich. Natürlich kam das raus, es gab ein riesen Theater mit meinen Eltern, alle waren fürchterlich besorgt. Was für ein Wirbel. Es wäre alles halb so wild gewesen, hätte sich niemand eingemischt. Aber das Verbotene machte es nur viel spannender für mich.

Keine freie Wahl in der Liebe

Letztendlich hat er mir damals das Herz gebrochen, obwohl ich in meinen Augen viel für ihn riskiert habe. Das hing mir lange nach. Ich hatte ja überhaupt keine Erfahrung mit Jungs.Da die Zeugen Jehovas nur unter sich heiraten, also nur andere Zeugen Jehovas und es davon aber nicht so viele gibt, ist die Auswahl dürftig. Ich lernte mal hier und da jemanden kennen, aber ich merkte immer schnell, dass das nicht meine Welt war.

Man darf mit einer Person des anderen Geschlechts nie alleine sein, ob man ein Paar ist oder nicht, ist dabei egal. Wie soll man sich da richtig kennenlernen, oder mal näherkommen? Das ist natürlich nicht gewollt, man soll ja „rein“ bleiben. Wie viele ZJ tatsächlich jungfräulich in die Ehe gehen, sei dahingestellt. Ich bin da ehrlich gesagt skeptisch. Natürlich gibt es viele, die total dahinterstehen, ich will niemandem etwas unterstellen. Aber ich war auf Partys, wir nannten sie Zeugen-Partys – da gab es keine Regeln.

Da wurde geraucht, zu viel getrunken und wer weiß was noch alles getan. Aber erlaubt war davon nichts. Es waren aber nur junge Leute da, also niemand, der etwas petzen würde. Eigentlich ist man als guter Zeuge Jehovas dazu angehalten, Fehlverhalten anderer zu melden. Dann gibt es Gespräche mit den so genannten Ältesten, den Aufsehern der einzelnen Gemeinden. Da muss man dann quasi eine Beichte ablegen und wird gefragt, ob man sein Handeln bereut. Es wird in der Bibel gelesen und gebetet.

Freiheiten? Beichte ablegen und Buße tun

Das Ganze ist äußerst erniedrigend, ich hatte einmal so ein Treffen. Es war schrecklich. Wenn man sein Handeln bereut, darf man einer von ihnen bleiben. Aber wenn nicht, wird man aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das bedeutet einen Kontaktabbruch mit allen Zeugen Jehovas, egal ob Freunde oder Verwandte. Man existiert für sie nicht mehr. Sie grüßen nicht, sie sehen weg, wenn sie dich sehen. Offiziell soll der Sünder dadurch zur Reue gelangen. Ich persönlich halte es für emotionale Erpressung.

Ich wusste ja von diesen Konsequenzen. Darum fing ich an, ein so genanntes Doppelleben zu führen. Ich bin mit 20 von zu Hause ausgezogen, das ermöglichte mir etwas mehr Freiraum. Ich wurde zwar immer noch kontrolliert, z. B. wenn ich eins der Treffen ausfallen ließ, die damals noch dreimal wöchentlich stattfanden. Dann kam immer direkt ein Anruf.

Außer Krankheit gab es nämlich keine Entschuldigung, um die so genannte Versammlung zu versäumen, wo doch der Geist Gottes herrscht und man durch die Glaubensbrüder und -schwestern ermuntert wird. Oder eben kontrolliert. Die Frauen tragen Rock, ausnahmslos zu allen Veranstaltungen der ZJ. Sonst wird man gerügt. Die Männer tragen Anzug und Krawatte. Aber bitte nicht zu modisch, man könnte Anstoß daran nehmen. Aber ich schweife ab.

Weg von den Zeugen Jehovas: Nur wie?

Ich hatte damals Angst davor, den Zeugen Jehovas offiziell den Rücken zu kehren, weil ich dachte, dass meine Eltern dann nicht mehr mit mir sprechen würden. Ich hatte ja auch in der Gemeinschaft Freunde, Leute die ich mein Leben lang kannte und die mir ans Herz gewachsen waren. Die wären dann alle weg gewesen. So weit war ich noch nicht. Aber so ein Doppelleben ist anstrengend, lebt man doch immer in der Angst, erwischt zu werden.

Die ZJ manipulieren viel über das eigene Gewissen. Sehr eingängige Formulierungen wie: „Möchten wir nicht, dass unser Handeln Gott glücklich macht?“, oder: „Wollen wir dafür verantwortlich sein, dass Gott unserer Gemeinde seinen Geist entzieht?“ können einem schon zusetzten, wenn man das immer und immer wieder erzählt bekommt.

Ich habe nie mit jemandem darüber geredet, denn ich habe ja ständig gesündigt. Wem hätte ich davon erzählen sollen? Ich fühlte mich schuldig, aber gleichzeitig auch eingesperrt. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Mein Ventil war dann irgendwann die Essstörung. Ich denke ich war 14 oder 15, als das anfing. Irgendwann habe ich gegessen und gebrochen und gegessen und gebrochen. Das konnte ich kontrollieren. Nur das.

Keinen Ausweg gesehen: Psychische Erkrankung

Ich wurde immer dünner, ich hatte chronische Rückenschmerzen, ich wurde sogar lebensmüde. Aber so wirklich wollte das niemand wahrhaben. Zur Therapie gehen kam damals nicht in Frage. Was hätte ich erzählen sollen? Das ich ZJ bin, das aber eigentlich nicht will? Es gab keinen Ausweg.

Irgendwann habe ich meinen jetzigen Ehemann kennengelernt. Wir waren anfangs noch nicht zusammen, aber wir kannten uns schon eine Weile. Nach einiger Zeit hat es dann gefunkt und da war klar, dass ich mich entscheiden muss: Er oder die ZJ.

Beides hätte nicht funktioniert. Ich habe mich für ihn entschieden, wir sind dann nach ca. einem halben Jahr in eine andere Stadt gezogen und ich habe einen Brief geschrieben, in dem stand, dass ich kein Mitglied der ZJ mehr sein möchte. Dadurch gelte ich als Ausgeschlossene. Ich werde also gemieden. Ich habe aber sehr viel Glück, denn meine Eltern halten den Kontakt zu mir, obwohl sie das eigentlich nicht dürften.

Der schmerzliche Ausstieg aus der Sekte

Ich habe in der Zeit nach dem Ausstieg schwere psychische Probleme entwickelt. Ich hatte schwere Depressionen und Angststörungen, ich musste mich stationär behandeln lassen. Ich war es ja nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Ich wusste eigentlich mit Mitte 20 nicht, wer ich eigentlich bin und was ich möchte. Ich habe immer nur nach Regeln gelebt. Es hat lange gedauert, sich davon frei zu machen.

Ich bin heute immer noch in psychologischer Behandlung und werde es wohl immer sein. Meinen Eltern kann ich nichts vorwerfen, sie haben das getan, was sie für das Beste hielten. Aber die Gemeinschaft der ZJ halte ich für mich eine sehr manipulative Sekte, die ihren Mitgliedern eine Bewusstseinskontrolle verpasst, ohne dass diese es merken.

Für mich war es das Beste, diese Gemeinschaft zu verlassen, ich wäre in diesem Konstrukt niemals glücklich geworden. Ich bin heute Atheistin. Ich kann nicht mehr an einen Gott glauben, dafür habe ich wohl zu schlechte Erfahrungen damit gemacht.

Ich lebe jetzt ein normales, glückliches Leben. Ich habe viele gute Freunde, die mich um meiner selbst willen mögen und nicht, weil wir zufällig derselben Religion angehören. Ich bin sehr gesellig und bin gerne unter Leuten. Ich habe die ZJ nicht einen Tag davon vermisst. Ich bin frei!

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11 comments

  1. Danke für den erlichen Bericht! Ich erkenne da sehr vieles wieder. Mir hat diese Religion auch das halbe Leben versaut. Und ich kenne einige, bei denen das genauso ist. Sehe das auch so wie Du. An Gott zu glauben ist danach echt schwierig. Und sollte der Gott der ZJ doch existieren, kann ich diesen Gott ganz sicher nicht lieben…ein Gott der Liebe ist das ganz sicher nicht.

    LG und alles Gute für Dich. Daniel!

  2. Hallo zusammen,

    es ist immer wieder das gleiche Muster. Und so ziemlich alle Regeln werden vor dem Hintergrund von Kontrolle und klein halten forciert.
    Man benötigt wirklich eine starke Persönlichkeit und eine extrem gutes psychisches Gleichgewicht um sich davon zu lösen.

    Deinen letzte Absatz kann ich wirklich unterstreichen und dem kann ich nur zustimmen.

    „Ich lebe jetzt ein normales, glückliches Leben. Ich habe viele gute Freunde, die mich um meiner selbst willen mögen und nicht, weil wir zufällig derselben Religion angehören. Ich bin sehr gesellig und bin gerne unter Leuten. Ich habe die ZJ nicht einen Tag davon vermisst. Ich bin frei!“

  3. Vor etwa sechs Jahren schaffte ich es (im dritten Anlauf und mit psychologischer und ambulanter Unterstützung)endlich, mich aus dieser Gruppe zu befreien.

    Als Kind lebte ich im sogenn. „geteilten Haus“. Mein Leben war hart.

    Du bist nicht allein. Danke für deinen offenen Bericht.

  4. Meine Frau und ich haben gleiches erlebt.Wir waren Sonderpionire und hatten die Einladung zu Giliadschule.Wir haben diese Menschenverachtende Sekte verlassen.Zwei erfolgreiche Prozesse haben wir gut überstanden.

  5. Vieles davon kann ich gut nachempfinden. Durch andere Erfahrungen. Ist schon ein krass eng gesteckter Rahmen…

    Eine befreundete Familie hat es so erlebt, dass auch die Eltern, als die Kinder klein waren, zu den ZJ kamen, aber später selbst austraten – und damit eines ihrer Kinder an die ZJ verloren. Es war schon gerade so erwachsen und hält sich bis heute streng daran, keinen Kontakt mit den Eltern zu haben. Hart.

    Aber die Eltern haben die Freiheit entdeckt, die Jesus Christus wirklich bereit hält. Und der denkt und fühlt wie es Elisabeth schreibt. Ein Gott der sich ganz entschieden gegen Kontrolle, Manipulation etc. stellt und der Beziehung und Familie sowie Freundschaft geschaffen hat und liebt. Und „echt“ und ehrlich sein ist der beste Schritt auf ihn zu.

  6. Ich habe grade einen langen Kommentar getippt und ihn wieder gelöscht…
    Auch ich habe als Kind einige Jahre bei den ZJs erlebt..
    ich erkenne einiges wieder und fühle mit dir.

    1. Wow, sogar Sonderpionier. Mehr geht ja bei den ZJ fast nicht. Und doch habt ihr den Weg raus gefunden. Ich bewundere das und wünsche euch euch Gute.

  7. Wie wäre es, wenn es so ist, dass es Gott tatsächlich gibt, der das, was und wie du es beschreibst, genauso sieht wie du? Wenn Gott das, was dir wieder fahren ist genau so empfindet wie du. Und wünschte, so wären die Menschen NICHT (gewesen), und du wärest schon als Kind frei gewesen!

    Alles Liebe für Dich!

    1. Hallo,

      Ich komme aus Indonesien (meine Familie sind in Indonesien) und war seit Geburt als ZJ. Mit 22 war ich sehr enttäuscht von ZJ also war ich nicht mehr aktiv weil ich kein Doubleleben führen wollte. Ich bin jetzt 40, habe 2 Kinder und mit dem Atheisten verheiratet . Ich habe nie offiziell JZ verlassen. Mann nennt mich verlorene glaube ich. 2 von meine Geschwister sind sogar die Ältesten. Seit mein Vater gestorben ist …haben meine Geschwister Abstand zu mir gemacht. Die haben mich nicht raus von der Familien Chatgruppe geworfen sondern einfach dass private Nachrichten wurde ich nicht mehr kriegen. Ich bin verzweifelt ob ich richtig offiziell ZJ verlassen kann dann verliere ich wirklich meine Geschwister 😪😢. Ich habe keine Eltern mehr und meiner Geschwister zu verlieren ist sehr schwer. Ich lebe frei (nicht auf Regeln gehalten) schon seit ich 23 Jahre alt war. Ich war auch in der Psychologie Behandlung um Ängste über Schuld Gefühle weg zu kriegen. Meine Geschwister haben mich immer wieder in der Gemeinde zu besuchen überreden lassen. Wie mache ich?Ich will von ZJ austreten aber Ich bin noch nicht bereit meine Geschwister zu verlieren😭.
      LG,
      Ruth

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