Ihr Lieben, es gibt Momente, in denen wir als Eltern über das Verhalten unserer Kinder verzweifeln könnten. Und es ist schön, wenn Mütter und Väter dann jemanden haben, an den sie sich wenden können. Inke Hummel aus Bonn ist genau so jemand. Sie ist Familienbegleiterin, Erziehungsberaterin und Pädagogin und gibt Tipps für eine bindungsorierntierte Beziehung. Mittlerweile ist sie aber nicht mehr nur in der beratung tätig und twittert als gäbe es kein Morgen, sondern schreibt auch noch am laufenden Band ganz wunderbare Bücher im Humboldt Verlag. Unter anderem ein viel beachtetes über schüchterne Kinder oder ein auf Augenhöhe angelegtes zur Pubertät. Ihr neustes Zauberwerk ist soeben erschienen: Mein wunderbares wildes Kind: Zu laut, zu unbequem, zu anders. Was lebhafte Kinder und ihre Eltern brauchen. Dazu durften wir sie interviewen und um Einschätzungen bitten.
Liebe Inke, du berätst Familien in Sachen Kinder-Erziehung, hilfst beim Lösen von Blockaden und gibst Eltern neue Sicht- und Denkweisen mit in den Alltag. Hörst du da öfter Sätze wie: „Ich liebe mein Kind, aber ich mag es grad nicht“?
Die Familien kommen immer sehr schnell an in den Beratungsgesprächen und sind dann sehr offen, was für meine Arbeit natürlich total wertvoll ist. Und ja: genau solche Sätze dürfen dann fallen und werden auch tatsächlich gesagt. Ich finde das sehr wichtig, denn das sind ganz normale Gefühle. Wir achten so darauf, dass bei unseren Kindern alle Gefühle okay sein dürfen, und das müssen wir unbedingt auch bei uns tun. Wichtig ist, was wir daraus machen. Laden wir sie beim Kind ab? Die Familien, die zu mir kommen, wollen das bewusst nicht tun. Und daran arbeiten wir dann.
Was findest du wunderbar an wilden Kindern?
Ich bin selbst alles andere als wild und war es auch als Kind nicht. Eines meiner eigenen Kinder kam aber mit diesem Temperament zur Welt, und so anstrengend die Begleitung war (und ist): Dieses Kind bringt am meisten Leben in unsere Bude. Da wird nicht lang gefackelt, sondern da wird gemacht. Es wird immer groß geträumt – nicht zaghaft und am Ende mit einem „lieber doch nicht“. Wenn wilde Kinder lernen dürfen, das Ganze ein wenig dosiert in die Welt zu streuen, sind sie wirklich einfach nur wunderbar.
Dein Tipp für genervte Eltern: Suche keine Schuldigen – für sein Temperament und seine Entwicklung kann kein Kind etwas. Dir geht es hier um Entlastung, weil das auch Druck nehmen kann, oder?
Genau. Ich spüre den Druck in den Beratungen und habe ihn auch in den ersten dutzend dankbaren Rückmeldungen zu meinem neuen Buch unglaublich heftig erlebt. Ich wünsche mir, dass Eltern ihr Kind genau ansehen und verstehen, was da los ist, welche Begleitung es braucht, wie lange diese Entwicklung dauern darf… Damit es aufhört, dass jedes Verhalten, dass nur leicht abseits der angenehmen Mitte ist, Eltern als Erziehungsfehler in die Schuhe geschoben oder Kindern Entwicklungsdefizit ausgelegt wird.
Ein wildes Kind kann das Familienmobilé ins Wanken bringen. Es spürt, dass es aneckt. Vielleicht äußert es auch mal Dinge wie „Immer bin ich alles schuld“. Und vielleicht denken die Eltern in diesem Moment bei sich: Ja, das stimmt. Ohne dich ist hier halt Ruhe. Wie sollten sie auf die Aussage des Kindes reagieren?
Das muss man sich sehr genau und auch dem Alter nach anschauen. Nicht alle Kinder empfinden das so, aber einige äußern das durchaus, manchmal auch schon mit 4, 5 Jahren. Hier wie auch in anderen Momenten finde ich es wichtig, ins Mitgefühl zu gehen: Dem Kind sollte man das Schuldgefühl nehmen, denn das gehört da nicht hin. Stattdessen kann man sagen, dass sein Temperament in dieser Welt bislang leider nicht so viel Platz hat und dass man selbst in der Begleitung oft gar nicht gut weiß, was das Beste wäre – aber auch, dass das kein Grund ist, dass das Kind sich verbiegen muss, sondern dass man mit ihm gemeinsam schauen möchte, welche Strategien ihm helfen, aber auch welche Veränderungen im Umfeld ihm helfen können.
Der Familiencoach Christopher End sagte mal, dass auch das Miteinanderweinen dann total richtig und gut ist, und das glaube ich auch. Außerdem kann es helfen, wenn wir Eltern die Züge an uns thematisieren, die auch nicht so leicht zu händeln sind. Dann muss unser Kind sich nicht so allein und besonders fühlen.
Du sagst: „Strafen und Druck sind keine Lösung“. Welche guten Alternativen gibt es?
Miteinander. Wenn wir Eltern sehen, dass es unserem Kind guttun würde, für bestimmte Lebensbereiche Strategien zu entwickeln, die ihm seinen Lebensweg leichter machen und zum Beispiel das Familiengefüge entlasten können, dann braucht unser Kind Motivation, um sich derlei Strategien zu eigen zu machen.
Gesunde Motivation entsteht in Beziehungen nicht aus Strafen, Beschimpfungen und Co., sondern aus Verständnis und Mitgefühl. Da müssen wir hinkommen im täglichen Miteinander. Das braucht Beziehung zwischen Eltern und Kind, Ressourcen bei den Eltern und viel Zeit. Ich möchte Eltern hier Impulse an die Hand geben, um das ganz gut schaffen zu können, aber auch entlasten mit dem Wissen, dass das ein harter Job ist, der im Alltag nicht perfekt geleistet werden kann. Das ist okay.
Zu laut, zu unbequem, zu anders: Mit wilden Kindern ist es in der Gesellschaft gar nicht so leicht. Da schütteln auch schon mal Großeltern den Kopf, da stehen Lehrergespräche an, nach außen hin kann das schon mal zum Kampf werden. Das kostet die Eltern Kraft. Und es kann sie auch traurig stimmen, wenn das eigene Kind von anderen nicht unbedingt gemocht wird. Wie geh ich emotional damit um?
An der Stelle finde ich den Fokus wichtig auf die Kernfamilie und auch auf Bewältigung. Das heißt zum einen: Geht es uns gut? Was brauchen wir? Was oder auch wer tut uns (im Moment) nicht gut? Diese Fragen darf man stellen und nach dem Beantworten auch bestimmte Entscheidungen treffen: Müssen wir nochmal anders mit Opa reden? Brauchen wir Abstand von der befreundeten Familie XY? Wie relevant ist diese Lehrkraft für uns? Mit wem können wir mit Hilfe von entwicklungspsychologischen oder anderen Informationen noch mal ganz neu in den Kontakt gehen? Und wo brechen wir die Zelte vielleicht ab? Wer oder was ist uns wichtig?
Das kann auch ein schmerzhafter Prozess sein, aber am Ende können neue, bessere Verbindungen stehen oder aber auch eine stärkere Familie mit eben etwas weniger Verbindungen. Es ist sehr individuell. Wichtig dabei ist, dass Eltern anerkennen, dass es hier eine Hürde zu nehmen gilt und dass sie sich Unterstützung holen dürfen, wenn sie sich überfordert fühlen. Hilfe zu suchen ist immer klug.
Vielen Beratungsfamilien bei mir hilft der Gedanke, dass ein Kind mit einem körperlich sichtbaren Handicap wie einem gebrochenen Bein selbstverständlich Hilfestellungen wie Krücken, einen Rollstuhl oder einen Freund, der die Tasche trägt, bekäme und wir uns nicht mit Verwandten abgeben würden, die darauf bestehen, dass unser Kind mit auf die 10 km Wanderung kommen muss. Diesen Blick dürfen wir auch bei einem fordernden Temperament oder einer langsameren emotional-sozialen Entwicklung einnehmen.
„Warum bist du so?“ „Warum schaffst du es immer wieder, die Familiensituation zum Eskalieren zu bringen“ „Es könnte so einfach sein!“ „Hast du auch mal an deine Geschwister gedacht, die total untergehen, weil deine Wut und deine Lautstärke so viel Raum einnehmen?“ All das sind Fragen und Sätze, die sich Eltern gefühlsstarker Kinder stellen. Wie schaffe ich es, die Wildheit meines Kindes schätzen zu lernen?
Hier muss ich kurz einwerfen, dass ich Gefühlsstärke und Wildheit im Buch voneinander abgrenze. Es gibt Überschneidungen, aber einige Bereiche, die für gefühlsstarke Kinder herausfordernd sind, sind es für wilde nicht, so dass sie in meinem Buch keine Berücksichtigung finden. Ich möchte da keine falschen Erwartungen schüren. Vieles passt aber natürlich für beide. – Ganz kurz gesagt: Für gefühlsstarke Kinder sind Gefühle fordernd, die reinkommen, und genauso die, die sie rauslassen. Für die wilden ist es nur der zweite Bereich.
Die Wildheit schätzen zu lernen, schaffen wir am besten, wenn wir sie verstehen und es uns selbst gut geht in der Begleitung. Das benötigt oftmals einiges an Schritten und Arbeit an uns selbst und unserer Beziehung zum Kind. Darauf gehe ich im Buch intensiv ein, denn das ist gar nicht so leicht und gelingt sicher auch nicht in jedem Moment.
Warum ist die Gesellschaft eigentlich so sehr auf Angepasstheit und Konformität aus? Machen nicht am Ende gerade die den Unterschied, die anders sind? Die ein buntes Feuerwerk sind? Denn ja, Feuerwerke können gefährlich sein, setzen aber auch viel Energie frei und bleiben in Erinnerung, oder?
In vielen Situationen und gerade im Erwachsenenalter ist Raum für diese Pracht und Energie, und ich denke, die gesellschaftliche Entwicklung geht auch immer mehr dahin. Langsam, aber stetig. Doch gerade im Kindesalter ist dafür wenig Platz: Wir Eltern haben wenig emotionale Ressourcen durch das viele Begleiten, vielleicht schlechte Nächte, Herausforderung in der Partnerschaft als junge Eltern und eventuell noch den Job, die Stimmen der Verwandten und jetzt on top Corona.
Und in Institutionen sind der Personalschlüssel und damit die Gruppengrößen, die räumlichen Gegebenheiten und die Anforderungen an die Kinder oftmals nicht passend, um die emotionale Begleitung derartig intensiv zu leisten, wie es nötig wäre. Eher regulationsstarke oder zum Beispiel auch schüchterne Kinder sind da natürlich in vielen Momenten leichter zu händeln. Das ist menschlich. Aber es ist nicht okay.