Liebe Claudia, Du hast das Tuner-Syndrom. Was genau ist das und was bedeutet das für dein Leben?
Das Turner-Syndrom ist ein Chromosomenfehler. Normalerweise haben Menschen ja in jeder Zelle 46 Chromosomen, Frauen 46 XX und Männer 46 XY. Bei Turner-Syndrom ist das zweite X-Chromosom verändert oder fehlt. In der klassischen Variante ist der Chromosomensatz also 45 X0.
Das Turner-Syndrom gilt rein genetisch als Intersexualität. Aber wirklich nur, weil es eben eine Veränderung der Geschlechtschromosomen ist! Körperlich ist man bei Turner-Syndrom komplett weiblich und kommt mit allen weiblichen Organen zur Welt. Wie ich auch fühlen sich fast alle Betroffenen als vollwertige Frauen und wollen auch so wahrgenommen werden.
Das Syndrom wirkt sich ganz unterschiedlich auf den Körper aus. Fast alle von uns sind kleinwüchsig. Auch unfruchtbar sind wir fast alle, da die Eierstöcke verkümmert sind. Viele von uns haben auch Herzfehler und Autoimmunkrankheiten wie Diabetes Typ 1 oder die Hashimoto-Schilddrüsenentzündung. Ein gedrungener Körperbau mit kurzen Beinen und eine flügelförmige Hautfalte an beiden Seiten des Halses gehören auch zu den Symptomen. Aber damit ist die Liste noch lange nicht zu Ende.
In meiner Kindheit waren definitiv mein angeborener Herzfehler, der zweimal operiert werden musste, und der Kleinwuchs die vorherrschenden Themen. Zum Kardiologen gehe ich auch heute noch mindestens einmal im Jahr zur Kontrolle. Außerdem habe ich auch Hashimoto, was regelmäßig kontrolliert werden muss um die Medikamente anzupassen.
In der Pubertät war es das Erwachsenwerden und zu-einer-Frau-werden mit der Hormontherapie und die Auseinandersetzung mit der Unfruchtbarkeit, die mir schwerfielen.
Abgesehen von den Turner-typischen Wehwehchen lebe ich ein ganz normales Leben mit Ausbildung, Beruf und Ehe. Auch mit ziemlich viel ganz normalem Chaos. Und bis zur Schwangerschaft mit ziemlich viel Kampfsport und Musik. Im Alltag schränkt es mich kaum ein.
Wann ist die Diagnose gestellt worden und wie hast du davon erfahren?
Die Diagnose wurde gestellt als ich ungefähr sieben Jahre alt war. Soweit ich mich erinnere, haben meine Eltern mich damals mit in die Endokrinologie genommen und mir wurde von dem Arzt dort im Aufklärungsgespräch alles erklärt, was zu dem Syndrom dazugehört. Und zwar komplett ungefiltert! Ich habe also im Alter von sieben Jahren gelernt, was Chromosomen sind und erfahren, dass mir eines davon fehlt, dass ich deshalb kleinwüchsig bin und den Herzfehler habe und dass ich unfruchtbar bin und Hormontherapien machen muss.
Wie ging es dir damals mit dieser Diagnose?
Als ich die Diagnose bekommen habe fand ich das eigentlich nur spannend und interessant. Das Herz war ja zu dem Zeitpunkt schon versorgt und der Rest kam mir dann gar nicht so schlimm vor.
Man muss auch sagen, dass ich ja durch den Herzfehler immer schon eine Sonderstellung hatte. Gesund und normal gibt es in meinem Leben ja praktisch gar nicht und das vermisse ich auch nicht. Ich habe durch das Turner-Syndrom ganz andere Erfahrungen gemacht als andere Menschen, die aber genauso wertvoll sind. Außerdem habe ich einen ganz normalen Alltag zwischen Job und Familie, wo sich das Turner-Syndrom so gut wie nie bemerkbar macht.
Andererseits verfluche ich das Syndrom natürlich schon manchmal. Man fragt sich: Warum ausgerechnet ich? (Obwohl man weiß, dass diese Frage zu nichts führt…) Die gesundheitlichen Probleme und Therapien zu managen ist manchmal, wenn viele Arztbesuche anstehen, wirklich anstrengend. Vor allem die Zeit, als ich am Herz operiert worden bin, war richtig hart. Genauso wie auch die Zeit der Kinderwunschbehandlung. Und dann gibt es die nervigen Kleinigkeiten: Ich bin nicht so sportlich wie andere, bin eben einfach klein, entspreche nicht dem gängigen Schönheitsideal oder Frauenbild. Normale Dinge wie einfach so oder mit etwas „Übung“ schwanger werden oder einfach so meine Tage bekommen, an Verhütung denken müssen, gibt es in meinem Leben eben einfach nicht. All diese Dinge, die man eigentlich erst im Vergleich mit anderen, gesunden Frauen spürt, können einen schon manchmal zermürben.
Welche Therapien hast du bekommen und ab wann und warum?
Ziemlich schnell nach der Diagnose haben wir mit einer Wachstumshormontherapie begonnen. Mit Turner-Syndrom wird man ohne Therapie meistens nicht größer als 1,45 m. Es gibt eine Formel, mit der man die erwartete Größe berechnen kann. Bei mir hat sie ca. 1,43 ergeben. Durch Wachstumshormone bin ich jetzt 1,52 m „groß“.
Um die Pubertät auszulösen, gab es dann im Alter von 13 Östrogene und Progesteron, ähnlich wie die Pille. Diese Hormone gibt man, um die Entwicklung in Richtung Frau und die Gesundheit von Knochen und Blutgefäßen zu fördern. Daher werde ich sie auch noch bis ins hohe Alter nehmen müssen.
Ich nehme außerdem noch Schilddrüsenhormone, auch ungefähr seit meinem 13. Lebensjahr, da damals auch die Hashimoto-Schilddrüsenentzündung akut wurde.
Wie ist dein Partner damit umgegangen, dass du keine leiblichen Kinder bekommen kannst?
Tatsächlich gab es in meinem Leben nur einen Partner: meinen Mann und Vater meines Sohnes.
Er hatte schon lange, bevor er mich kennen gelernt hat, einen starken Kinderwunsch, daher war er zu Beginn unserer Beziehung auch noch skeptisch. Ich habe ihm schon gesagt, dass ich das Turner-Syndrom habe, als wir uns gerade erst kennen gelernt hatten und noch lange kein Paar waren. Er hat sich dann entschieden, den Weg der Eizellspende mit mir zu gehen.
Du hast die Eizellspende gerade erwähnt. Kannst du da mehr darüber erzählen?
Als die Diagnose gestellt wurde, haben meine Eltern immer schon gesagt: „Ach, wer weiß was die Medizin alles kann, wenn du in 20 Jahren mal Kinder willst“ Und von daher war ich für Kinderwunschbehandlungen auch immer offen. Natürlich wollte ich zuerst eine fertige Ausbildung und einen Beruf haben, wie jeder andere auch, bevor ich Mutter werde. Aber Mutter werden wollte ich auf jeden Fall irgendwann. Und Eizellspende erschien mir da als die beste Möglichkeit. Eizellen aus Stammzellen oder übrigem Eierstockgewebe zu gewinnen, ist leider noch nicht möglich bzw. klappt nicht zuverlässig, und Adoption ist mit viel zu vielen bürokratischen Hindernissen behaftet.
Wir haben uns letztendlich eine tschechische Klinik ausgesucht. Bei uns hat es beim dritten Versuch geklappt, der erste Versuch endete leider in einer frühen Fehlgeburt und der zweite war ein Negativ.
Das heißt, du bist Mutter. Was bedeutet diese Mutterschaft für dich?
Sie ist ein absolutes Geschenk! Wirklich, auch wenn es wie ein Klischee klingt, es ist eine ganz neue Form von Liebe, die ich durch meinen Kleinen kennen gelernt habe. Natürlich ist er manchmal anstrengend, wie jedes Kind. Für mich ist auch manchmal die Verantwortung, die man für so einen kleinen Wurm hat, unglaublich groß und erdrückend. Aber es ist so wahnsinnig schön zu sehen, wie er sich entwickelt und jeden Tag lernt, die Ärmchen nach uns ausstreckt und uns umarmt und all das tut, was Jungs in seinem Alter nun mal tun.
Alles in Allem, obwohl ich meinen Sohn weder natürlich empfangen, noch natürlich zur Welt bringen oder stillen durfte, bin ich einfach eine ganz normale Mama. Auch wenn er aus einer Spendereizelle entstanden ist, würde ich ihn niemals als fremd oder „nicht mein Kind“ empfinden. Ich bin der Spenderin und den Ärzten an unserer Klinik einfach nur unglaublich dankbar, dass sie sein Leben möglich gemacht haben!
Was hat dir in schweren Momenten, wenn du mit dem Schicksal gehadert hast, geholfen?
In allererster Linie der Rückhalt durch meine Eltern und meinen Mann. Klar gibt es auch bei uns Konflikte (ich bin ein riesengroßer Sturkopf) aber ich weiß: Wenn ich meine Familie nicht hätte, wäre ich definitiv nicht dort, wo ich heute bin. Wenn es darauf ankommt, sind sie alle für mich da.
Außerdem hilft mir immer der unerschütterliche Glaube an mich selbst und meinen Körper. Durch die Erfahrungen in meiner Kindheit und den Kampfsport weiß ich sehr genau, was mein Körper kann und was ich kann. Und ich weiß, dass mich so schnell nichts aus der Bahn wirft.
Was rätst du anderen betroffenen Frauen?
Ich rate dazu, mit der Diagnose offen umzugehen und darüber zu reden. Es bringt selten die oft befürchteten Nachteile und nur, wenn wir darüber sprechen, kann man Vorurteile abbauen und auch Eltern und werdenden Eltern von Turner-Mädchen Ängste nehmen.
Ich finde auch den Kontakt zu anderen Betroffenen ganz wichtig, denn die haben dasselbe oder ähnliches durchgemacht wie man selbst und verstehen einen.
Ich rate auch zu Kampfsport, denn dadurch entwickelt man ein ganz anderes Selbstbewusstsein.
Außerdem: Sich niemals unterkriegen lassen oder erzählen lassen, dass man eingeschränkt oder behindert wäre. Das Leben mit Turner-Syndrom ist genauso wertvoll, wie ohne.
Embryonen mit Turner-Syndrom haben eine Wahrscheinlichkeit von nur 2 %, zu überleben und es bis zur Geburt zu schaffen. Jede, die es geschafft hat, ist ein Wunder. Was könnte uns da noch aufhalten?
2 comments
Danke Claudia für deine Offenheit hier von dir/euch zu erzählen.
Hallo Claudia ich habe auch das Turner syndrom und mir wurde früher auch von ärzten gesagt ich würde nie in die Pubertät kommen kann keine Kinder bekommen. Zum glück muss ich heute ssgen ist alles anderes gelommen als gesagt. Bin in die Pubertät gekommen und heute sogar glückliche Mutter trotz des kleinwuchs.
Wenn du magst würde ich mach gerne mit dir über so sachen austauschen. Kannst mich gerne bei Facebook nadja faust kontaktierren und danke noch mal, dass du es veröffentlicht hast