Mehrmals wurde es schon angesprochen: Viele Eltern sind beseelt von dem Gedanken, es müsse mit Kindern, die man liebt und mit denen man sich so richtig Mühe gibt, immer alles harmonisch laufen. Widerstand gegen Regeln, Überschreiten von Grenzen, Weinen, Gezeter und böse Worte vonseiten der Kinder und aus dem eigenen Munde werden wie Scheitern bewertet. Dies trifft nicht zu!
Unsere Kinder wachsen in einer Zeit auf, in der sie von der Wirtschaft als Kaufkraft gezielt umworben und mit unzähligen Reizen überflutet werden. Wünsche und Bedürfnisse werden ohne Unterlass geweckt: noch ein Eis, noch länger Konsole spielen, noch länger wach bleiben, noch ein Lego-Set … Auch wer eine sehr lange Zündschnur, ganz viel Geduld und einen gut gefüllten Geldbeutel hat, wird früher oder später an den Punkt kommen, an dem ein Nein ausgesprochen werden muss! Und genau das ist eben kein Scheitern!
Sich bewusst machen, dass Scheitern zum Leben gehört
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir nie im Leben so oft beim Scheitern zugesehen wie als Mutter kleiner, größerer und fast erwachsener Kinder.
Ja, jeden Tag gestalten beziehungsweise bewältigen wir Mütter und Väter unzählige Situationen im Zusammenleben mit unseren Kindern. Da müssen wir die Erkenntnis zulassen, dass wir – an den eigenen Ansprüchen gemessen – nicht alle dieser Situationen perfekt managen können. Solange wir die überwiegende Anzahl an Situationen einigermaßen passend gestalten, wird das Kind sicher und geschützt aufwachsen, ein starkes Selbstwertgefühl aufbauen und sich gut entwickeln.
Von der auf uns selbst bezogenen Defizitorientierung, die mit Selbstzweifeln, Traurigkeit über das eigene Verhalten und Gefühlen des Scheiterns einhergeht, sollten wir uns verabschieden und zu einer Ressourcenorientierung à la »Was hat toll geklappt? Was habe ich elegant gelöst?« übergehen.
Sich bewusst machen, dass Kinder am »Scheitern« der Eltern einiges lernen
Dieser Gedanke mag zunächst befremden. Am Scheitern lernen? Am Scheitern der Eltern obendrein? Dabei ist es gar nicht so wenig, was Kinder lernen, wenn ihre Eltern mal nicht so glücklich agieren, wenn sie das mit der Wertschätzung oder das mit der klaren Führung nicht so gut hinbekommen.
Kinder lernen: Erwachsene sind nicht perfekt.
Wie erwähnt: Eltern müssen nicht perfekt sein, um gute Eltern zu sein. Aber für Kinder stehen diese allmächtigen Erwachsenen, die ihre Eltern sind, zunächst einmal sehr weit oben in der Ohne-Fehl-und-Tadel-Skala. Eine Weile glauben sie wohl wirklich daran, dass Eltern alles können und alles richtig machen. Erlauben wir uns ein kleines Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn Kinder bei dieser Ansicht stehen blieben, wenn sie auch noch im Erwachsenenalter an die Perfektion ihrer Eltern glauben würden? Wie würden sie sich selbst dann fühlen?
Klein und minderwertig vermutlich. Ist es unter diesem Gesichtspunkt nicht schlichtweg zu begrüßen, dass Eltern vor den Augen und Ohren ihrer Kinder immer wieder mal Fehler machen, dass sie nicht alles im Leben perfekt hinkriegen?
Kinder lernen: Erwachsene können ihr eigenes Verhalten reflektieren
Und jetzt wieder mal eine große Chance für uns Eltern: Wenn wir, nachdem wir unsere Unvollkommenheit unter Beweis gestellt haben, nicht einfach zur Tagesordnung gehen, sondern unseren Kindern zeigen, dass wir über unser Verhalten und unsere Worte nachdenken, dass wir uns Gedanken darüber machen, was gut und schlecht daran war, dann sind wir ein wunderbares Vorbild für diese unsere Kinder. Von denen wir uns ja auch wünschen, dass es für sie irgendwann selbstverständlich ist, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren.
Kinder lernen: Erwachsene können sich entschuldigen.
Ein Vorbild sind wir auch, wenn wir unseren Kindern sagen, dass uns unsere Worte und Taten leidtun. Wenn sie dies immer wieder miterleben, wird es auch ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Dass es kein Zeichen von Schwäche ist, sich zu entschuldigen, sondern dass es mit innerer Größe und Souveränität verbunden ist, lernen unsere Kinder auf diese Weise »so nebenbei«.
Kinder lernen: Erwachsene können um Besserung ringen.
Und schließlich lernen Kinder, dass auch Erwachsene sich große Mühe geben können, eine Sache besser als bisher zu bewältigen. Wenn wir damit kein gutes Vorbild sind … 😉
Kinder lernen: Wenn man Menschen reizt, muss man mit den Folgen leben.
Zuletzt lernen Kinder noch auf einer anderen Ebene dazu, wenn die geliebten Eltern vom positiven Weg abweichen: Sie lernen, dass man Menschen reizen kann, dass auch gute, liebe Menschen so lange aus der Reserve gelockt werden können, bis man sie kaum wiedererkennt. Sie trainieren es, Signale wahrzunehmen und sich im besten Fall deeskalierend zu verhalten, sprich: ihre Eltern nicht weiter zu reizen. Solche Situationen – selten – im geschützten Rahmen der Familie zu erleben, ist vermutlich weniger verstörend, als die Erfahrung mit wildfremden Menschen oder in der Schule, in der Arbeit, im Freundeskreis, in der Partnerschaft et cetera zu machen. Eltern müssen die unschöne Szene allerdings angemessen aufarbeiten, nachbesprechen, erklären. Auf keinen Fall darf sie als Bedrohung im Raum stehen bleiben!
Während der Arbeit an diesem Buch verfolgte ich in einem Elternforum eine Diskussion, die durch folgenden Gedanken Jesper Juuls ausgelöst war: Er habe es ständig mit Eltern zu tun gehabt, die sich nicht sicher waren, ob sie ihren Kindern gegenüber laut werden dürften. Und er habe diesen Eltern gesagt, natürlich sei es erlaubt, zu heulen, zu schreien und so weiter. Denn: Für Kinder seien lebende Eltern wichtig, keine Schaufensterpuppen. Die Diskussion entzündete sich am Thema »Schreien«. Einige der Diskutierenden zeigten sich sehr verwirrt. Man habe in letzter Zeit doch immer lesen können, dass Schreien der Seele des Kindes schade, und nun diese Aussage, ausgerechnet von Jesper Juul! Eine Diskussionsteilnehmerin brachte einen interessanten Gedanken ins Spiel: Ihre eigene Mutter sei sehr selten laut geworden, aber sie habe sie auf andere Weise manipuliert, habe ihr die Schuld an allem gegeben, habe ihr das Gefühl vermittelt, sie sei dumm und schlichtweg nicht so, wie sie sein sollte.
Ich glaube, hier wird deutlich, worauf es ankommt: dass gelegentliches Schreien, wenn Eltern es gerade einfach nicht besser hinbekommen, wenig Schaden auslöst im Vergleich zu elterlichen Verhaltensweisen, die für Kinder viel schwerer zu durchschauen sind.
Jesper Juul rät Eltern strikt von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen ab, genau so komme es zu unklaren Formulierungen und unklaren Botschaften. Also lieber die Flucht nach vorne antreten – und auf die nächste Gelegenheit zum Bessermachen hoffen!
Über die Autorin: Dieser Beitrag stammt von Heidemarie Brosche, wir hatten hier schon einen tollen Beitrag von ihr darüber, ob Jungs in unserer Gesellschaft unbeliebter sind (Hier der Link zu dem Text). Seit letzter Woche ist ihr neues Buch „Hätte ich netter schimpfen sollen?“ (Affiliate Link) auf dem Markt – darin gibt sie mit praktischen Anleitungen und Situationsbeispielen gibt sie Hilfestellung, um im Familienalltag gelassen zu bleiben.