Ihr Lieben, das Schönste an diesem Blog ist für uns, dass wir so viele unterschiedliche Mütter kennen lernen. Und damit meinen wir nicht nur die Frauen, die ein Kind geboren haben, sondern auch Mütter mit angenommenen oder adoptierten Kindern. Denn Mutterliebe ist Mutterliebe. Heute stellen wir Euch Kerstin Held vor, sie nimmt seit vielen Jahren pflegebedürftige Kinder in ihre „Helden-Familie“ auf. Wir bedanken uns für dieses schöne Interview und so viel Engagement, über das Kerstin auch ein Buch geschrieben hat, das gestern erschienen ist.
Liebe Kerstin, Du hast in den letzten Jahren 12 Pflegekinder aufgenommen, wovon 10 schwerst behindert waren. Kannst Du etwas über die Hintergründe dieser Kinder erzählen?
Mein erster Pflegesohn war ein Kind aus dem Kinderheim, in dem ich mein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht habe. Sascha ist schwerstmehrfach beeinträchtigt und heute 33 Jahre alt. Er wohnt in einem Wohnheim für Menschen mit Intensivpflege.
Seine kleine Schwester Maike war viel bei uns und wurde wenig später ebenfalls zu einem Heldenkind. Heute ist Maike 29 Jahre alt, Ergotherapeutin und meine Adoptivtochter.
Später kam Paul im Alter von 5 Jahren hinzu. Paul war mein erstes Kind mit dem sogenannten Fetalen Alkoholsyndrom. Paul war zuvor in einer Pflegefamilie, in der er zu seiner Behinderung schwere Misshandlung erfahren musste. Er brachte also zu seiner Behinderung auch eine schwere psychische Komponente mit, die uns sehr forderte. So lernten wir mit Traumata und sogenannten Triggern umzugehen.
In dem Haus, in dem wir lebten, gab es ein Mädchen. Sie war die Tochter einer recht schwierigen Mutter und wohnte in der dritten Etage. Jana war viel bei uns und lernte die bunte Welt der Kinder mit Behinderungen kennen und fand Gefallen und ein wenig Zuflucht in der Heldenfamilie. Sie wurde als junge Erwachsene ebenfalls ein Teil der Helden und konnte von mir gut in ihr eigenes Leben entlassen werden. Heute ist sie Heilerziehungspflegerin, ist 30 Jahre alt und wohnt in der Nähe.
Paul musste die Familie in eine besondere Wohngruppe für Menschen mit sehr speziellem Verhalten im Alter von fast 18 Jahren verlassen und ist nun mit 24 Jahren ein akzeptierter Mitbewohner dieser Wohngruppe.
Im Jahr 2005 kam mein Baby in die Familie. Cora war ein Frühchen einer minderjährigen Mutter, die u.a. synthetische Drogen konsumierte. Die Entwicklung dieses kleinen Mädchens war total unklar. Cora ist heute 15 Jahr alt, hat einen frühkindlichen Autismus, eine Tetraspastik und Epilepsie. Sie liebt Livekonzerte und Musicals. Reiten ist ihre große Leidenschaft.
Dann veränderte sich dein privates Leben…
Ja, meine Ehe ging auseinander und ich zog mit meiner Lebensgefährtin zusammen. Sie brachte eine Pflegetochter mit in die Beziehung. Wir nahmen dann gemeinsam die kleine Lotta auf, von der wir wussten, dass dieses Mädchen sterben wird. Sie hatte sich als Frühchen auf der Intensivstation einen multiresistenten Keim eingefangen. Das Gehirn hatte einen zu großen Schaden genommen. Lotta war neun Monate in meiner Obhut mit einem Pflegedienst als Hilfe. Sie starb zu Hause in meinem Arm, so wie wir es uns für das kleine Mädchen gewünscht haben. Nach Lotta wusste ich, dass sogenannte Palliativkinder (Kinder mit verkürzter Lebenserwartung) auch ein zu Hause brauchen und dass ich das kann.
So fand der kleine Tim seinen Weg zu den Helden. Er war sieben Monate alt, als er zu mir kam. Er hatte eine schwere Behinderung durch Röteln in der Schwangerschaft. Tim starb im Alter von 1,5 Jahren an der Grippe innerhalb von 48 Stunden.
Wenig später wurde der kleine Richard zu einem Heldenkind. Auch er war sieben Monate lang allein in der Klink. Er kam mit einem hohen Blutalkohol in einer Badewanne in einem Bordell zur Welt. Als ich ihn zu mir nahm, sagte der Arzt: „Über den Kindergarten müssen Sie sich keine Gedanken machen. Das wird er nicht schaffen!“. Mein kleiner Sir Richard ist heute sieben Jahre alt und kommt in die Schule.
Als Paul in das Wohnheim gekommen ist, dachte ich, es sei Platz für ein großes Kind, was noch eine Chance in einer Familie verdient hat. So kam Julia in die Familie, die zuvor neun Jahre in einer Klinik aufgewachsen ist. Sie hat das sogenannte Undine Syndrom und muss an die Beatmungsmaschine, wenn sie schläft. Der Atemreflex setzt aus. Nach fast einem Jahr stellten wir jedoch fest, dass Julia zwar eine Menge vom „normalen“ Leben lernen kann, aber nicht in einer Familie. Sie hatte zu lange alle 8 Stunden einen Bezugswechsel. Eine Mama konnte dieses Mädchen nicht ertragen, auch wenn ich es mir so sehr für sie gewünscht habe. Sie lebt heute in einer Mädchenwohngemeinschaft und ist glücklich.
Erik war erst 4 Monate alt und lag allein in einer neurologischen Rehaklinik, die Mutter hatte keinen Kontakt zu ihm gewollt. Er hatte einen sehr schweren Start, heute ist er fast 6 Jahre alt und ein echter Heldenwirbel. Zusätzlich steht die Diagnose Fetales Alkoholsyndrom seit einiger Zeit fest.
Und dann gibt es noch den kleine Jonathan. Seine Bauchmama hat ihn bewusst in Obhut. Jonathan musste nach einem Herz-Kreislauf Stillstand sehr lange reanimiert werden, wodurch er einen schweren Hirnschaden erlitten hat. Seine sehr junge Mutter fühlte sich überfordert.
Das sind meine 12 Kinder mit unterschiedlichster Geschichte und verschiedensten Anforderungen an das Leben.
Es gibt viele Menschen, die gerne Kinder in Pflege aufnehmen möchten – die wenigsten entschieden sich aber für behinderte Kinder. Warum bist du diesen Weg gegangen?
Ich habe mein erstes Pflegekind eher unbewusst aufgenommen. Er war der kleine Junge, den ich im Kinderheim damals versorgte. Jahre später haben mein Mann und ich Sascha ganz blauäugig zu uns genommen. Wir hatten keine Ahnung, was ein Pflegekind ist, geschweige denn, dass es keine Rechtsprechung für Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien gibt. Die Behinderung an sich ist für mich kein Problem, da ich mit einer schwerbehinderten und pflegebedürftigen Schwester groß geworden bin.
Gab es zu Anfang auch Kommentare a la „Warum tust du dir das dann?“ von außen?
Oh ja, Unverständnis gibt es bis heute. Für mich sind vier Rollstuhl-Räder neben mir das Normalste der Welt. Mich kostet es Mühe, aber keine Überwindung. Vielleicht liegt da der grundlegende Unterschied zu denen, die diese Erfahrungen und Selbstverständlichkeit nicht mitbringen können.
Welchen beruflichen Hintergrund hast Du?
Ich selbst bin Ergotherapeutin und Rehabilitationstechnikerin.
Von einigen Kindern bist du auch der Vormund. Was ist da der Unterschied zur Pflegemutter?
Ich bin von allen Kindern personensorgeberechtigt. Als Pflegefamilie hat man die sogenannte Alltagssorge. Wesentliche Entscheidungen darf nur der oder die sorgeberechtigte Person treffen. Da diese Entscheidungen bei Kindern mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen täglich anfallen können, ist die Personensorge eine meiner klaren Voraussetzungen für eine langfristige und verlässliche Begleitung des Kindes in allen Belangen und den besonderen Bedürfnissen.
Was wünscht du dir für deine Pflegekinder?
Dass sie immer in Zufriedenheit und Schmerzfreiheit den Tag erleben dürfen und dass jeder Tag gut zu Ende geht.
Wie haben die Pflegekinder dein Leben bereichert?
Diese Kinder sind Kinder und nichts als Kinder. Jedes Kind bereichert das Leben. So auch meine, mir anvertrauten Kinder. Die Behinderung ist sicherlich anstrengender und mit vielen Herausforderungen im täglichen Leben verbunden, deshalb ist mein Leben ein liebevolles und ehrliches Improvisations-Theater des Alltags. Kein Tag gleicht dem anderen und jede Planung kann jeden Moment hinüber sein. Aber eines steht fest: Meine Kinder sind die wahren Mentoren meines Lebens und dafür bin ich ihnen sehr dankbar!
Du bist auch Vorsitzende im Bundesverband behinderter Pflegekinder – für was setzt Ihr Euch ein?
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder (BbP) e.V. ist eine Selbsthilfevereinigung von Pflege- und Adoptiveltern, die zweifach benachteiligten Kindern ein familiäres Zuhause geben – Kindern, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können und die gleichzeitig eine Behinderung oder eine chronische Krankheit haben oder besonders herausfordernde Verhaltensweisen mitbringen. Der BbP ist die einzige Selbsthilfeorganisation im Bereich Pflegekinderhilfe, die Kinder mit Behinderung in den Mittelpunkt stellt. In derzeit rund 550 Mitgliedsfamilien aus allen Bundesländern leben über 1.000 Pflegekinder unter 18 Jahren. Als politische Lobby sieht sich der BbP allen Familien verpflichtet, die ein Kind mit besonderem Bedarf aufgenommen haben.
5 comments
Liebe Kerstin, du bist eine starke Frau und Mutter. Ich bin ergriffen von deiner/euren Lebensgeschichte(n). Ich selbst bin Pflegemutter. Wir haben uns damals nicht zugetraut ein Kind mit Behinderung aufzunehmen. Auch ein Pflegekind ohne körper- oder geistige Behinderung ist herausfordernd, da immer eine seelische Behinderung vorliegt. Ich weiß was es bedeutet diese Herausforderung anzunehmen und mit ihr zu leben. Deine Haltung gegenüber deinen „Helden“ ist bewunderswert! Deine Helden werden es dir danken, jeden Tag aufs NEUE auf ihre Art und Weise. Ich sende dir viele gute Gedanken!
Es gibt eine sehr empfehlenswerte Doku vom WDR (zu finden auf YouTube, „Leben mit schwer behinderten Pflegekindern“) über diese bemerkenswerte Frau. Mein vollster Respekt und alles Gute für dich, Kerstin!
Liebe Kerstin, die Geschichten deiner Kinder haben mich sehr berührt. Ich kann gar nicht ausdrücken wie großartig ich es finde dass du den Kindern ein tolles, liebevolles Zuhause gibst! Auch ich ziehe meinen Hut vor dir und sage danke, für das was du tust!
DAS ist eine wahre Heldin und nicht die Stars und Sternchen, die für Oberflächlichkeiten gefeiert werden. Menschen, die diese Stärke haben und andere diese übermitteln, haben meinen größten Respekt. Danke für deine Stärke, deine Liebe und Hilfe, liebe Löwenmama Kerstin.
Wow, ich ziehe meinen Hut davor, wie selbstverständlich und toll Kerstin das alles meistert!