Ihr Lieben, vor noch gar nicht langer Zeit hatten wir hier schon ein Interview mit der tollen Heidemarie Brosche – die dreifache Jungsmama und Lehrerin hat uns erzählt, warum Jungs es in der Schule doch etwas schwerer haben und wie wir unsere Söhne unterstützen können. Euch und uns hat das Interview damals sehr gefallen – daher freuen wir uns, dass Heidemarie Brosche heute erneut Gast bei uns ist. Das Thema: DEIN KIND IST GENAU SO RICHTIG, WIE ES IST! Vielen Dank für diesen wichtigen Text!
"Als ich selbst jung war, war mir kein bisschen bewusst, was es mit Mängelstempeln auf sich hat. Rückblickend betrachtet, habe ich selber welche abbekommen und ich habe miterlebt, wie andere Kinder als zu … bezeichnet wurden.
Bei meinen Söhnen, die von klein auf sehr unterschiedlich waren, nahm ich die Bemängelungen dann viel bewusster wahr: zu ruhig, zu lebhaft, zu eigensinnig … Ich hatte zwar schon damals das Gefühl und sprach es mal in der Elternsprechstunde gegenüber einem Lehrer aus, dass ich meine Kinder nicht umstricken könne. Aber so richtig gepackt hat es mich, als sie älter und schließlich erwachsen wurden.
Die Ruhe des einen tut mir inzwischen genauso gut wie die heitere Art des anderen, beiden hat ihre jeweilige Wesensart in meinen Augen nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Ich bin sehr froh, dass wir Eltern nicht versucht haben, sie tatsächlich umzustricken. Schließlich hat uns der Eigensinnige in der Pubertät mit der Botschaft erfreut, er sehe keinen Sinn darin, mit dem Rauchen anzufangen, bloß weil so viele andere dies täten. Da wurde mir dann massiv bewusst, dass es eine große Stärke sein kann, EIGENwillig zu sein. Wie oft hatte ich mir früher gewünscht, er wäre so unkompliziert wie andere Kinder und würde einfach tun, was man ihm sagte!
Bemängelungen bringen nichts
So begann ich mich mit dem Thema der Bemängelungen und Zu-Zuschreibungen auseinanderzusetzen. Und wurde immer wieder darin bestätigt: Bemängelungen bringen nichts.
Erstens helfen sie nicht. Alle, mit denen ich sprach und die unter Bemängelungen gelitten hatten, sagten mir einhellig, es habe rein gar nichts zum Guten gewendet, wenn man sie oder ihre Kinder als zu … bezeichnet habe.
Zweitens richten Bemängelungen kleinen bis großen Schaden an. Im harmlosesten Fall vermitteln sie dem bemängelten Menschen das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein. Im schlimmsten Fall führen sie zu geringer Selbstachtung und psychischen Problemen, die weit ins Erwachsenenalter reichen können. „Ich habe die Erwartungen meiner Eltern nicht erfüllt“, ist ein oft gehörter und oft geschluchzter Satz – auch in psychotherapeutischen Sitzungen.
Das ewige Vergleichen
Und obwohl – wie sich im Laufe der Recherche zu meinem Buch bestätigt hat – so viele Menschen unter Zu…-Bemängelungen leiden oder gelitten haben, fällt es schwer, sich davon freizumachen. Wir sind es einfach gewohnt, ständig zu vergleichen. Der deutsche Sozialpsychologe Thomas Mussweiler bezeichnet das menschliche Ich gar als Vergleichsmaschine. Und mit dem Vergleichen kommt es eben sehr oft zum Bewerten und schließlich zum Abwerten. Es ist ja auch so üblich. Ständig findet sich jemand, der genau weiß, wie ein Kind zu sein hat und – oft auch ungefragt – sein Zu…-Urteil abgibt.
Die gute Nachricht: Wir müssen dieses Spiel nicht mitspielen! Das ewige Vergleichen sei in der heutigen Zeit nicht mehr zeitgemäß, sagt auch Dr. Raj Raghunathan, Professor an der University of Texas.
Abgesehen davon: Wer bestimmt überhaupt, was richtig und erwünscht ist? Ist doch alles relativ. Abhängig von der Kultur, vom Zeitgeist, von der gesellschaftlichen Situation …
Die Dinge anders sehen
Dass man die Dinge so und auch anders sehen kann, ist bekannt. Zum Umgang mit Herausforderungen belegen das z. B. die Sprichwörter „Wer sich in die Gefahr begibt, kommt in ihr um.“ und „Wer nicht wagt, gewinnt nicht.“. Entsprechend kann ich eben auch menschliche Wesensarten, Temperamente, Eigenschaften so und anders betrachten und bewerten.
Durch Beobachtungen, durch Gespräche und durch Fachlektüre wuchs in mir die Überzeugung, dass man viele vermeintliche Schwächen auch positiv sehen kann, ohne sie schönzureden.
Das Neue an dieser Sichtweise: nicht nur die Stärken neben den vermeintlichen Schwächen zu sehen – so nach dem Motto: „Mein Kind ist zwar unsportlich, aber dafür super in Mathe!“ –, sondern die Stärken gerade in den Schwächen zu entdecken.
Ein Kind, dem man attestiert, es sei zu langsam, ist vielleicht in der Schule tatsächlich das langsamste Kind der Klasse. Aber es hudelt eben auch nicht und wird womöglich in großer Ruhe und Bedächtigkeit seine Lebensaufgaben erfüllen. Bei meinen Vorträgen frage ich an dieser Stelle immer: „Ist durch langsame Menschen schon mal eine Katastrophe auf der Welt ausgelöst worden? Mir ist nichts davon bekannt.“ Bis jetzt hat mich noch niemand korrigiert. Klar, dass ein langsamer Mensch nicht an einer Stelle landen sollte, an der es auf blitzschnelle Entscheidungen ankommt, aber das muss er ja auch nicht. Warum also wird das Langsame von Haus aus immer negativ bewertet?
Oder ein Kind, das als faul gilt: Mit dem, was als Faulheit zutage tritt, gehen ja auch solch großartige Dinge einher wie keinen verbissenen Ehrgeiz zu zeigen, gelassen zu bleiben und Arbeitsökonomie zu beherrschen. Mit diesem anderen Blick kann man in fast allen vermeintlichen Schwächen Stärken entdecken. Klar wird der Introvertierte nicht zur Rampensau, aber das muss er ja auch nicht. Er ist eben viel mehr bei sich und kann damit sich selbst und seinen Mitmenschen gut tun. Die Rampensau wiederum glänzt als Unterhalter. Beide haben ihren Platz im Leben und in der menschlichen Gesellschaft, keiner ist „falsch“.
Wichtige Fragen für Eltern
Oft haben wir Eltern ja Sorge, etwas falsch zu machen oder etwas zu versäumen. Uns plagt die Frage: Wie können wir Schwächen erkennen, die beim besten Willen keine Wertschätzung verdient haben? Ich zaubere hier kein Patentrezept aus der Tasche, aber ich finde, Eltern sollten sich diese beiden Fragen stellen:
1. Hat das Kind große Schwierigkeiten wegen seiner „Schwäche“ – jetzt oder womöglich auf seinem weiteren Lebensweg?
2. Schadet das Kind mit seiner Schwäche anderen?
Wenn die Antwort jedes Mal nein ist, hat sich die Sache meines Erachtens erledigt. Wenn sie mindestens einmal ja lautet, müssen Eltern genau hinschauen und eventuell sensibel eingreifen. Was noch lange nicht heißt, dass sie nun doch Mängelstempel verpassen.
Kinder unterstützen, ohne sie umzumodeln
Insgesamt ermuntere ich dazu, kritische Stimmen nicht prinzipiell abzuschmettern. Es könnte ja tatsächlich sein, dass jemand von außen beizeiten den Finger in eine Wunde legt, die ohne entsprechende Behandlung immer weiter klaffen, bei angemessener Reaktion aber auch sehr schnell geheilt werden kann, z. B. indem Eltern ein besonderes Augenmerk auf die besagte wunde Stelle richten, ohne das Kind ummodeln zu wollen. Auf die Langsamkeit bezogen, können Eltern ihrem Kind sagen: „Wie es scheint, bist du tatsächlich in der Schule einer der Langsamen. Das ist an sich nicht schlimm, aber wenn es dich stört, dass du so oft nicht fertig wirst, versuche ich gerne, dich hier ein bisschen zu unterstützen, damit du etwas flotter wirst. Trotzdem glaub mir, dass auch in deiner langsamen Art viel Positives steckt, das dir außerhalb der Schule auch Vorteile bringen wird!“
Das eigene Erziehungsverhalten immer wieder kritisch reflektieren
Wenn wir uns beim Erziehen wirklich Mühe geben, wenn wir es so gut machen, wie wir können, dann brauchen wir keine Schuldgefühle zu entwickeln. Wir sind nun mal die Eltern dieses Kindes und auch uns gibt es nicht anders. Auch wir sind richtig, wie wir sind. Und auch wir machen nicht immer alles perfekt. Was ich aber sehr wohl empfehle: das eigene Erziehungsverhalten und vor allem auch die eigene Haltung immer wieder mal kritisch zu reflektieren. Wollen wir wirklich das Beste für unser Kind? Oder wollen wir ihm – in guter Absicht – etwas überstülpen? Wollen wir vielleicht sogar mit dem Kind glänzen? Wer sich hier eine ehrliche Antwort gibt, hat schon viel gut gemacht.
4 comments
Ich finde das ein Immer noch sehr wichtiges Thema und ein tolles Buch. Wie oft werden unsere Kinder im Kindergarten oder der Schule bewertet – als zu langsam, zu schnell, zu laut, zu still… – und das macht etwas mit uns Eltern.
Übrigens: Wer die Autorin „live“ kennen lernen möchte, sie gibt am 21. Februar 2023 einen kostenlosen Online-Vortrag zu genau dem Buchthema!
https://www.online-familienberater.de/kurse/heidemarie-brosche/
Vater von 2 Jungs und 1 Mädel
Ich habe mich mit meinen Kindern auch durch die deutsche Bildungslandschaft geschlagen und habe eigentlich bedauert dass unsere studierten Pädagogen auch diese gleichmacherei. Betreiben und allen Kindern nur erzählen warum sie blöd sind. Eigentlich sollte man doch erwarten, das sie verstanden haben, das wenn man die positiven Seiten der Kids betont und die negativen erwähnt aber nicht betont, die Kids sie selber ausbügeln wollen… aber es ist soo viel einfacher zu meckern….
Ein toller Artikel! Leider
Ein toller Artikel! Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein Kind eben doch „große Schwierigkeiten“ (siehe Frage 1) wegen einer vermeintlichen Schwäche hat, einfach weil das Schulsystem kaum Abweichungen von der Norm toleriert.
Ein klasse Artikel
Vielen Dank für diese Einblicke einer erfahrenen Mutter!
Ich kann viele Punkte sehr gut nachvollziehen, wie z.B. das ewige Vergleichen oder auch das Beurteilen zu Schulzeiten. Ich glaube dies hat mich, eher weniger selbstbewusst damals, sehr (negativ) beeinflusst & oftmals eingeschüchtert, anstatt zu fördern & zu motivieren.
Ich möchte für unseren Sohn mehr Leitplanke auf seinem Weg sein, als Vater, der versucht sein Kind zu steuern oder umzustricken. Er soll seinen eigenen Weg entdecken & gehen, wissend, dass er unsere Unterstützung dabei jederzeit hat.
LG, Richard & Hugo vom https://www.vatersohn.blog/