Regeln setzen ohne Strafen? So klappt das mit der Gelassenheit (fast) ohne Ausraster

schimpfen

Ihr Lieben, ihre Leserinnen reißen ihr die Bücher aus den Händen und auch hier im Blog gehören die Interviews mit Nicola Schmidt zu den vielgelesenen! Zuletzt hat sie uns erklärt, wie Geschwister zu einem Team werden können. Nun legt sie ein neues Buch nach, das vielversprechend klingt: Erziehen ohne Schimpfen (Affiliate Link). Kann das funktionieren? In unserem Alltag fliegen ja doch gern mal die Fetzen – also waren wir auch ganz besonders privat gespannt auf dieses Interview. Lest selbst, was uns die Erziehungsexpertin wieder für wertvolle Tipps und Ratschläge geben kann.

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Liebe Nicola, steigen wir direkt mal mit einer Situation aus dem echten Leben ein. Mein Kind ist sauer auf mich und verschwindet ins obere Stockwerk. Als am Abend die große (pubertierende) Schwester in ihr Zimmer kommt, bricht sie in Tränen aus. Ihr Zimmer ist ihr Rückzugsgebiet, ihr Heiligtum, ihre Ruhe-Oase, wenn die Brüder mal wieder streiten. Ihr eigenes Refugium. Der kleine Bruder weiß genau, wie sehr ich versuche, die zu schützen. In seiner Wut hat er nun – um mich zu ärgern – ihr Zimmer verwüstet. Du kannst dir vorstellen, wie wütend das eine Mutter macht. Wie kann es ihr dann noch möglich sein, nicht zu schimpfen? Und ist das zielführend? Denn das Kind soll ja merken, dass es den Bogen an dieser Stelle nun deutlich überspannt hat…

Ja, es hat den Bogen überspannt und das soll es auch merken – aber zum Schimpfen gibt es hier noch eine Menge Alternativen. Ich persönlich bin ja bekanntlich eine sehr faule Mutter und versuche daher, immer möglichst effektiv zu erziehen. Wenn wir also jetzt reagieren, kommt es vor allem auf das WIE an.

Wenn ich jetzt nur lauthals schimpfe, strafe und zurechtweise, dann wird das wütende Kind erst beschämt und dann innerlich noch wütender. Ich habe damit nichts gewonnen, der nächste Krach wartet gleich um die Ecke. Wenn wir uns so verhalten, reagieren wir in erster Linie unseren eigenen Stress ab, aber ans Ziel kommen wir damit nicht. Also sorgen wir lieber dafür, dass das Kind etwas lernt – und zwar jetzt.

Im Grunde stellen wir Eltern die Frage: Was soll das Kind lernen? Und wie lernt es das?

Es wäre in diesem Fall aus meiner Sicht klüger, die Familie zusammen an einen Tisch zu bringen. Wir klären, was passiert ist und vor allem klären wir, was es mit uns gemacht hat: Ich bin jetzt verzweifelt und entnervt, meine Tochter ist außer sich vor Schmerz und Wut und mein Sohn war offenbar so wütend, dass er eine der wichtigsten Familienregeln verletzt hat.

Hier kommt es darauf an, wie ich die Dinge sage. Wenn ich rufe: „Wie kannst du nur! Du bist unmöglich! Deine Schwester weint und du bist schuld! Du treibst mich noch in den Herzinfarkt!“ ist das verletzend. Wenn ich sage: „Das ist mir zu viel! Es fällt mir echt schwer, uns alle hier so verzweifelt, wütend und traurig zu sehen! Ich will das anders, ich will, dass wir uns zusammensetzen und eine Lösung finden“, dann ist das authentisch.

Am Anfang ist es, als würde man eine neue Fremdsprache lernen. An meinen eigenen Kindern kann ich aber beobachten, dass es unfassbar effektiv ist. Die Kinder lernen viel schneller, ihre Emotionen zu kontrollieren, wir haben deutlich weniger Zoff im Haus.

Wenn wir uns alle wieder beruhigt haben und alle ihre Emotionen los geworden sind, erst dann können wir besprechen, was überhaupt los ist: Wer braucht was? Was sind die Regeln? Was passiert, wenn wir uns nicht daran halten? Wie können wir lernen, uns daran zu halten?

Um bei deinem Beispiel zu bleiben: Der Bruder lernt Empathie, wenn er sieht, wie sehr es seine Schwester verletzt, wenn jemand so in ihr Zimmer eindringt. Und ich lehre ihn Impulskontrolle, indem ich Alternativen aufzeige, wie er seine Wut abreagieren kann. Und vielleicht heißt die Lösung auch: Die Schwester kriegt einen Schlüssel und darf ab jetzt ihr Zimmer abschließen. Oder der Bruder räumt es mit ihr zusammen wieder auf. Je nachdem, was die Familie braucht.

Niemand möchte in einem Alltag aus Motzen und Schimpfen groß werden, das ist uns schon klar. Du zitierst in deinem Buch sogar eine Studie, die besagt, dass Kinder alle 3 bis 9 Minuten zurechtgewiesen, geschimpft und bestraft werden – im Supermarkt noch öfter. Wie erklärst du dir das?

Ich würde sagen: Wir können nichts dafür! Echt nicht. Aber wir können es ändern.

In meinem Buch gibt es ein Kapitel, das heißt: „Warum es in Botswana leichter ist als in Berlin“. Darin erzähle ich, wie wir von Beobachtungen in Jäger- und Sammler-Völkern wissen, dass sogar dort die Eltern mit vielen kleinen Kindern überfordert sind, wenn sie viel mit den Kindern alleine sind.

Uns fehlt einfach das Dorf, das uns hilft. Außerdem leben wir in einer Welt, die voller Regeln ist, in der man vieles falsch machen kann. Mit zwei kleinen Kindern im Supermarkt ist es ein Alptraum, mit zwei Kindern im Wald haben wir viel weniger Stress. Unser Job ist es also ganz klar, unseren Stress, unseren Druck zu reduzieren – egal was das für den Einzelnen heißt.

Wie können wir als Eltern denn rauskommen aus diesem Schimpfen? Ich denke da gern nochmal an letzten Sonntag, als die extra für die Kinder gekaufte Limo für ein Experiment auf die Terrasse gekippt wurde. Und während wir Eimer Wasser zum Wegspülen der Sauerei holten, hatten sie bereits Kaugummi in einer Pfanne angebraten, die klebrige Masse schließlich in eine Eiswürfelvorrichtung aus Gummi gegossen, mit gefrorenen Erdbeeren verziert und das Ganze in der Mikrowellen explodieren lassen (ihr kennt den Geruch von schmilzendem Gummi!!!). Man liebt als Eltern ja die Kreativität der Kleinen, aber man gerät ja schon auch – wie hier beschrieben – in Situationen des Wahnsinns, in denen man dann Angestautes auch einfach mal rauslassen muss…

Absolut, und es gibt keinen Grund jetzt „Oh, wie schön!“ zu rufen, schon gar nicht, wenn ich es einfach nur grauenhaft finde! Die wichtigste Frage hier ist nicht OB, sondern WIE ich mir Luft mache. Wenn ich dabei die Kinder verletze, klein mache oder gar strafe, dann tue ich mir selbst keinen Gefallen.

Es macht mir nur mehr Arbeit, denn Kinder, die viel geschimpft werden, lernen vor allem dies: Die Schimpfe zu umgehen.

Ein Beispiel: Wenn Kinder eine Strafe erwarten, lügen sie in experimentellen Settings eher als wenn man an ihre Empathie appelliert und sie einfach freundlich bittet, die Wahrheit zu sagen. Kriege ich als große Schwester immer ordentlich Schelte, wenn ich mich mit meinem kleinen Bruder streite, dann lerne ich, meinen Bruder nur zu piesacken, wenn keiner hinsieht – aber ich lerne keine Empathie und auch keine Möglichkeit, meine Wut auf das kleine Nervstück anders loszuwerden.

Und mein kleiner Bruder wiederum lernt, mich so lange zu provozieren, bis ich ausraste – und dann Schelte kriege. So ein System kann nicht funktionieren, es erzeugt am Ende nur Stress für alle – das ist wirklich zu anstrengend. Die Kinder versuchen, den Strafen und der Schimpfe zu entgehen, sie stauen Wut und Frust an und wir Erwachsenen werden Richter, Detektive und Staatsanwälte im eigenen Haus.

Aber wie mache ich mir Luft, ohne zu schimpfen? Es ist ganz einfach! Ich mache es, indem ich nicht urteile, bewerte, abwerte oder strafe, sondern indem ich mir eben Luft mache und sage, wie es mir wirklich geht!
Nicht so: „Du bist das schlimmste Kind, das ich kenne, wie kann man nur so einen Unfug machen?!“, das ist ja keine authentische Aussage.

Die authentische Aussage wäre: „Oh mein Gott! Das mit dem Plastik hätte schrecklich schief gehen können, dann hätte es in der Küche gebrannt und schaut nur, jetzt müssen wir total lange putzen und ich wollte gerade Abendessen machen und morgen muss ich früh raus – ich hab das Gefühl, die Welt bricht gerade über mir zusammen.“

Dann verstehen die Kinder von selbst, dass das jetzt wirklich keine gute Idee war. Und wenn sie die Eimer zum wegspülen der Sauerei selbst holen müssen, können sie in der Zeit auch keine Kaugummis anbraten…

Manchmal sagen wir spaßeshalber, dass wir mit den Kindern eher in einer WG leben als in einer Familiengemeinschaft, in der einfach auch mal Grenzen gesetzt werden und es klare Hierarchien gibt. Wie schätzt du das ein?

Nun – „Kinder sind kompetent, aber nicht erfahren“, sagt Jesper Juul. Daher ist es immer wichtig, ihre Meinung zu hören. Aber am Ende entscheiden in einem System (nach dem Organisationsforscher Frederick Laloux) am besten die, die auch die Konsequenzen tragen müssen, und das sind nun mal oft wir Eltern. In der Gewaltprävention habe ich gelernt, dass es zwei Dinge gibt, die Eltern immer entscheiden: Gesundheit und Sicherheit.

Denn wir Eltern wissen aus Erfahrung, was gefährlich ist und was nicht, Kinder wissen das oft einfach noch nicht und brauchen von uns eine klare Info, wo es sicher ist. Wir würden sie ja auch nicht vor einen LKW auf die Straße laufen lassen oder in einem Gebiet voller Raubtiere spielen lassen.

Dazu gehört für mich auch, dass wir abends um halb sieben keine Kaugummis mehr anbraten, aber dass ich ihr Bedürfnis sehe, das auszuprobieren und anbiete, dass sie das am Sonntag über dem Lagerfeuer gerne mal probieren dürfen. Wenn’s dann stinkt, dann wenigstens draußen!

Da wir ja alle nu Menschen sind und wir sicherlich auch mal ein schlechtes Gewissen haben, mal wieder zu viel gemeckert zu haben: Verrat uns doch bitte mal die sinnvollsten Tricks zur Anwendung in einer akuten Drucksituation im Alltag.

Ach, ich hasse es zutiefst, wenn mir Leute sagen: „Zählen Sie bis zehn! Atmen Sie tief durch!“ Wo leben diese Menschen? In einem buddhistischen Kloster? Ich kann bei Gummigeruch aus der Mikrowelle nicht bis zehn zählen, da kann ich nur noch in Panik in die Küche stürmen. Viele Eltern in meinen Vorträgen lachen an dieser Stelle erleichtert auf und sagen: Ja, wir auch nicht! Aber was können wir tun?

Ich denke, das Wichtigste ist, authentisch, aber nicht verletzend zu sein. Wie oben schon gesagt, kann ich ausufernd darüber sprechen, was ICH anders will, was MICH nervt und dabei kann man prima Druck abbauen, ohne jemanden zu verletzen. Und wenn ich mich dann wieder beruhigt habe (oder die Katze aus der Waschmaschinentrommel befreit habe), dann spreche ich mit den Kindern, wie wir das in Zukunft vermeiden und was ich von ihnen erwarte.

Du sprichst sogar von 1-Minuten-Übungen, das hört sich sehr elternfreundlich an. Magst du uns da nochmal ein paar Sätze zu sagen?

Ich hab mal gehört, dass Mönche 50.000 Stunden meditieren bis zur Erleuchtung – und ich frage mich oft, ob diese Mönche auch jeden Montagmorgen zwei müde Schulkinder zum Bus kriegen müssen… Soviel Zeit für Meditation habe ich einfach nicht. Daher habe ich im dem Kapitel „Wie wir im Alltag im grünen Bereich bleiben“ eine lange Liste kleiner Helfer gesammelt aus meinen Seminaren für Zeitmanagement, Achtsamkeit, aus dem Projektmanagement bis hin zur Verhaltenstherapie. Sie können uns im Alltag enorm entlasten, damit wir insgesamt weniger gestresst sind. Das meiste davon dauert nicht mehr als eine Minute – wir müssen es nur machen.

Dazu gehört zum Beispiel auch ein 15 Sekunden-Check-In, den ich z.B. im Alltag an jeder Fußgängerampel einmal durchführen kann. Damit prüfe ich, ob ich eigentlich noch im grünen Bereich bin. Oft merken wir nämlich gar nicht, dass wir schon längst total gestresst sind und das Verhalten der Kinder ist dann nur noch der berühmte Tropfen, der unser Fass zum überlaufen bringt. Es ist besser, vorher schon zu spüren, dass mir wieder Tag gerade zuviel wird und dann z.B. einen Termin sausen zu lassen, als abends mit den Kindern zu streiten.

Es sind auch kleine Meditationen dabei, zum Beispiel indem ich mir vorstellen, wie sich jemand um MICH kümmert, mich in den Arm nimmt, auf meiner Seite ist. Mit all diesen Übungen lerne ich, mein Gehirn auf eine neue Art zu vernetzen, was unfassbar großartige Effekte hat, wenn es dann zu einer Stresssituation kommt. Plötzlich reagiere ich viel gelassener, obwohl ich nicht bis zehn gezählt habe! Und das liegt daran, dass wir unser Gehirn neu trainiert haben und es plötzlich anders reagieren kann. Es lohnt sich, das auszuprobieren – es ist magisch.

Und zu guter Letzt: Was rätst du Eltern wie uns, die immer mal wieder an ihre Grenzen geraten und sicherlich auch mal lauter werden als ursprünglich geplant, weil sie sich schlicht ein bisschen mehr Alltagstauglichkeit und Kooperation von ihren Kindern wünschen?

Als erstes: Seien wir gut zu allen – auch zu uns selbst. Unser innerer Kritiker ist oft sehr streng, um nicht zu sagen unmenschlich! Er sieht nicht, dass es ein wirklich schwieriger Tag war, dass wir zu wenig Schlaf hatten, dass die letzte Woche wirklich anstrengend gewesen ist. Wir können aber lernen, wirklich ganz auf unserer Seite zu sein, weniger streng mit uns selbst und weniger streng mit den Kindern. Denn dann wird die Energie frei, die wir brauchen, um etwas zu verändern.

Allerdings – wenn wir immer und ständig mehr von uns und den Kindern fordern, als wir alle leisten können – vielleicht ist dann mal eine grundsätzliche Veränderung gefragt? Vielleicht ist unser Leben insgesamt zu stressig, vielleicht haben wir einfach nicht genug Zeit, um mit den Kindern Kaugummi-Experimente zu machen? Viele Kinder fragen mit „negativem Verhalten“ auch schlicht: „Wo bist du?“

Aus meiner Sicht kooperieren Kinder ja immer – wenn sie also ständig unkooperativ oder „nicht Alltags-tauglich“ sind könnte man auch die Frage stellen, ob vielleicht unser Alltag nicht ausreichend „kindertauglich“ ist? Und das ist das große Geschenk des Nicht-Schimpfens: Plötzlich sehen wir, was die Kinder brauchen, was wir selbst brauchen und wie wir ein Leben bauen können, indem wir so leben, wie wir es uns wirklich wünschen.

Viele Eltern nehmen das aus meinen Veranstaltungen mit und wir bieten allen eine 21-Tage-Challenge im Buch, die man leicht alleine oder mit Freunden durchführen kann. So können wir uns gegenseitig unterstützen und ganze neue Wege in ein das neues Leben finden, das wir wirklich leben wollen.

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Fotos: pixabay, GU

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