Gastbeitrag von Lotta: Wie soll man weiterleben, wenn der Bruder Suizid begangen hat?

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Es war einer dieser wunderschönen goldenen Herbsttage vor nun beinahe 6 Jahren, der mein Leben und das Leben meiner Familie in ein “Vorher“ und „Nachher“ zerissen hat. Brutal und erschütternd.

Ich war den ganzen Vormittag mit meinem Sohn, damals 5 Jahre alt, auf einem Kindergartenausflug. Wir sind gewandert, haben gelacht, gespielt und einen unvergesslichen Tag miteinander verbracht. Nach dem Mittagessen, zuhause, meine Tochter war auch schon aus der Schule gekommen, läutete es an unserer Haustür. Ich öffnete sie. 

Zwei Polizisten standen in der Tür und baten um Einlass. Ich kann nicht mehr sagen, welches Gefühl ich hatte,  als ich sie hereinbat, denn das nächste, woran ich mich erinnern kann, sind die Worte: "Es tut uns sehr leid, aber wir müssen Ihnen mitteilen, dass sich ihr Bruder heute morgen das Leben genommen hat."

Mein Vater saß gerade an unserem Küchentisch und trank eine Tasse Kaffee. Ich sah ihn an und es war wie eine große Welle, die ihn erfasste und die ihn gnadenlos umwarf. Er verschwand vor meinen Augen in eine andere Welt. Bis heute ist er nicht mehr wieder ganz aus ihr zurückgekehrt.

Meine Mutter, eine unheimlich starke Frau, wurde, als sie die Nachricht vom Tod Ihres einzigen Sohnes erfuhr, sofort von so einem großen Schmerz übermannt, dass ich selbst dachte, ich bekäme keine Luft mehr. Sie so leiden zu sehen hat mich heillos überfordert. 

Da stand ich nun zwischen meinen Eltern an der Seite meiner Schwester,  reglos, atemlos und da war er, der Gedanke, der mich in schiere Panik versetzte: "Wie soll ich das bloß meinen Kindern sagen? 5 und 8 Jahre alt."

Natürlich hatten sie schon längst wahrgenommen, dass etwas Außergewöhnliches, Beängstigendes passiert sein musste. Ich hatte den Eindruck, um unser Haus wäre eine große Blase,  in der die Welt aufgehört hatte sich zu drehen.

Ich sagte meiner Tochter (8), dass ihr Onkel gestorben sei und sie brach in Tränen aus, ich sagte es meinem Sohn (5), er schaute mich bloß ungläubig mit seinen braunen Kulleraugen an und sagte: „Okay Mama…darf ich jetzt wieder Federball spielen?“

Kurze Zeit später wurden die Kinder von meiner Schwiegermutter abgeholt und ich musste mich der bisher schlimmsten Sache in meinem Leben stellen. Mein Mann fuhr mit meiner Schwester, meiner Mutter und mir in die Stadt, um die Leiche offiziell zu identifizieren.

Ich für meinen Teil sah nur mehr einen Körper, er selbst, seine Seele, wenn man so will, war längst nicht mehr da. Am Heimweg dämmerte mir, dass ich vielleicht noch an diesem Abend, aber spätestens am Morgen mit meinen Kindern sprechen musste, ihnen Antworten auf die Fragen wie und warum er gestorben ist, geben musste. Ich war ratlos und hilflos und dann hab ich den Rat einer Bekannten ( sie ist Theologin, Psychotherapeutin und mehrfache Mutter) eingeholt:

Ehrlich sagen,  was passiert ist ohne auszuschmücken…bei sich bleiben und die eigene Traurigkeit nicht verstecken…nur die Fragen beantworten, die gestellt werden ohne zu ausführlich zu werden…z.B. „Euer Onkel war sehr krank, deshalb wollte er nicht mehr weiterleben.“ …

An diesem Abend ging ich erschöpft zu Bett und konnte doch keine Minute schlafen. Ich hatte das Gefühl so verwundet zu sein, jede Faser meines Körper schmerzte, es fühlte sich an als wäre ich rundum wund.

Dieser Zustand hielt einige Wochen an und  tauchte später in Schüben das ganze erste Jahr über immer wieder einmal auf.

Alle Feste, die im ersten Jahr gefeiert wurden, Geburtstage, runde Geburtstage, Weihnachten, Ostern, waren eine Herausforderung. Doch wir haben uns bewusst dafür entschieden sie zu feiern, immer ein bisschen anders als die vielen Jahre zuvor, um die Traurigkeit, die uns unweigerlich heimgesucht hatte,  in Grenzen halten zu können.

Doch immer im Rahmen unserer langjährigen Familientraditionen, durch die wir uns zusammengehörig und verbunden fühlten. Wir haben uns gegenseitig gehalten.

Wir waren ein Familienbild mit einem leeren Fleck, in dem sich alle Personen einen neuen Platz suchten, um wieder ein harmonisches Bild zu ergeben, eingefasst von einem schönen alten Rahmen, der verhindert hat, dass irgendjemand hinausgefallen ist.

Ich weiß noch ganz genau, was meine besten Freundinnen zu mir gesagt haben. Jede Antwort, die mir jede einzelne von ihnen auf die Todesnachricht gegeben hat, hat sich in mein Hirn eingebrannt. Jede von ihnen hat mich auf ihre ganz individuelle Art unterstützt und das werde ich Ihnen niemals vergessen. Wenn ich daran zurückdenke, durchfließt mich immer neben der Traurigkeit viel Dankbarkeit und Liebe. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass mein Mann, meine Kinder und ich getragen wurden. 

Natürlich gab es auch einige unbedachte, ich möchte fast sagen bösartige Bemerkungen, aber ich habe gelernt, diese an mir vorbeiziehen zu lassen. Ich war damals so sehr damit gefordert jeden Tag so halbwegs zu meistern, dass ich schlichtweg keine Kraft aufbringen konnte, mich mit diesen „Blödheiten“ auseinanderzusetzen. Und siehe da, wenn man sich auf so etwas erst gar nicht einlässt, hören die Menschen damit auf. 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass man um einen Menschen, der  Suizid begangen hat, nicht so offen trauern darf, wie um jemanden, der z.B. durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit sein Leben verloren hat. Es wäre ja quasi nicht notwendig gewesen, dass er sich und uns das angetan hat. In der Öffentlichkeit wird einem in so einem Trauerfall immer noch maximal „Trauern mit angezogener Handbremse“ zugestanden. 

Dasselbe gilt für das Erinnern. Vielen wäre Recht, wenn es nur hinter vorgehaltener Hand stattfinden würde. Wir versuchen, immer wieder, aus diesen Konventionen auszubrechen. Wir trauern um ihn, wir erinnern uns an ihn und wir lachen miteinander, wenn wir von ihm erzählen.  Wir muten unserem Gegenüber die betretene Gesprächspause zu, die beinahe jedes Mal entsteht, wenn wir beginnen von ihm zu sprechen. Es gibt sicher viele verschiedene Wege mit so einem Schicksalsschlag umzugehen. Wir haben uns für diesen entschieden.

Zur Tat an sich gibt es kaum etwas zu sagen. Niemand weiß, was er in diesen Minuten wirklich gedacht und gefühlt hat. Niemand weiß, was der unmittelbare Auslöser war. 

Es werden wohl immer mehr Fragen als Antworten bleiben. Mit dieser Tatsache zu leben ist wohl die größte Herausforderung für uns, denn wir hätten sie ja so gerne, die Antworten auf diese Fragen. 

 

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2 comments

  1. .
    Ich weiß genau wie Sie sich fühlen mein älterer Bruder der leider nur 21 jahre gelebt hat, hat sich vor 1,5 Jahren das Leben genommen. Zu diesem Zeitpunkt war ich 12 Jahre alt. Unsere Familie hatte schon immer mit Depressionen, Angststörungen und Gewalt zu kämpfen. Mein Vater hat uns 6 Kinder nieder gemacht. Er hat nur mich geschlagen, ich bin das einzige Mädchen neben 5 Brüdern. Meiner Meinung nach ist es so, wenn sich ein Mensch umbringt will er/sie niemanden verletzen sondern einfach nur das die psychischen Qualen aufhören. Vor ein paar Wochen hatte ich starke Schmerzen und ich musste eine Woche stationär im krankenhaus behandelt werden. Alle Ursachen wurden gefunden. Ich habe Migräne und einen sehr schwachen Kreislauf aber was mit meinem Herzen war? Neben der kinderklinik lag eine psychiatrie für kinder und Jugendliche.
    Ich habe das erste mal mit einem Therapeuten geredet. Es wurde mir gesagt die herzschmerzen kamen von meiner Psyche. Und dann wusste ich es, er hatte recht. Ich hatte starke herzschmerzen und ich gab zu ich war erfüllt von tiefer trauer. Ob och meinem Bruder jemals vergeben werde, ist leicht zu sagen für jemanden wie mich. Ich habe schon darüber nachgedacht mich umzubringen. Aber ich kann nicht weil ich weiß wie schwer es ist so zurückgelassen zu werden. Es ist wie ein Stich in die Brust mir einem dreckigem Messer. Ich hoffe Sie finden Trost und liebe in ihrer Familie. Viel Glück und ein erfülltes friedliches Leben.❤
    Liebe Grüße Aiyana Evans

  2. Heilt es jemals
    „Trauern mit angezogener Handbremse“ 

    Das erlebe ich seit sich mein Schwager vor knapp drei Jahren umgebracht hat. Denn er war ein böser Mensch, hatte nur Fehler und war physisch krank…Hat seinen Weg selbst gewählt und anderen nur Leid zugefügt. Auch nur ein gutes Wort über ihn zu verlieren ist unmöglich

    Fakt, ich ertrage es kaum. Immer noch nicht. Ja, er hatte Fehler. Viele. ( wie alle Menschen) Er verletzte meine Schwester oft im Vorfeld sehr schlimm.
    Dennoch war er auch ein Mensch mit lieben Seiten und nicht nur Ehemann.
    Er war einFreund, Sohn und einfach mein Schwager den ich lieb hatte und auch wenn ich es wohl nie offen dagen darf noch lieb habe…Wie einen Bruder.

    Werde ich darüber hinwegkommen? Nein, denn die Tatsache wie mit seinem Tod umgegangen wurde, hat einen Teil von mir mitgerissen. Vielleicht heilt das irgendwann. Ich kann mir momentan nur noch nicht vorstellen wann und wie…