Liebe Kathrin. Dein Sohn hat einen sektenen Gendefekt – welcher ist das genau und wann ist Dir das erste Mal aufgefallen, dass Dein Kind anders ist?
Mein Sohn Till ist 2,5 Jahre alt. Er hat das Say-Barber-Biesecker Syndrom, eine Form des Ohdo Syndroms. Als Till ein halbes Jahr alt war ist uns aufgefallen, dass er anders ist als die Babys im Freundeskreis. Er hat nicht versucht sich zu drehen oder zu krabbeln. Und er hat nie nach etwas gegriffen oder wollte etwas haben. Wenn wir ihm ein Spielzeug in die Hand gegeben haben, hat er es genommen. Und wenn nicht, dann war er einfach mit sich zufrieden und hat seine Hände betrachtet.
Wie lange haben die Ärzte gebraucht, um fest zustellen, was Dein Kind hat?
Ich habe als Erstes meine wunderbare Hebamme gebeten, sich Till nochmal genau anzusehen. Schließlich ist er unser erstes Kind und wir wollten auch nicht hysterisch von Arzt zu Arzt rennen, nur weil er etwas länger braucht. Sie riet uns, auf jeden Fall zum Kinderarzt zu gehen und ihn darauf anzusprechen, dass Till entwicklungsverzögert ist. Der Kinderarzt hat Till dann Physiotherapie verordnet, da der Kleine eine Muskelhypotonie hat. Damals hofften wir noch, dass es ihm aufgrund der schwachen Muskeln einfach zu anstrengend sei sich zu bewegen und eine Kräftigung durch die Physiotherapie da helfen könnte. Obwohl wir zweimal die Woche mit Till zur Physiotherapie gingen wurde es nicht besser. Der Kinderarzt schickte uns zum Augenarzt, um abzuklären, ob Till evtl. blind sein könnte. Ist er nicht. Irgendwann blieb nur noch der Gentest als letztes Mittel. Der erste war aber unauffällig. Wir wurden in ein anderes Krankenhaus überweisen und die Untersuchungen gingen weiter. Als Till ein Jahr alt war, stellten wir uns bei der Genetikerin vor. Sie schaute sich den Kleinen genau an und stellte viele Fragen. Und als wir gingen sagte sie uns, dass sie eine Idee hätte. Und tatsächlich hatten wir 2 Wochen später endlich ein Ergebnis. Say-Barber-Biesecker Syndrom. Die Genetikerin hatte vor vielen Jahren im Studium einmal davon gehört und sich erinnert. Und dann gezielt darauf testen lassen.
Wie hast Du Dich gefühlt, als Du endlich die Diagnose hattest?
Einerseits waren wir erleichtert, dass wir uns die Andersartigkeit von Till nicht eingebildet hatten, aber andererseits kamen jetzt ganz viele Ängste und Zweifel hoch. Till ist, soweit wir wissen, der einzige Betroffene in ganz Deutschland. Und die Ärzte wissen so gut wie nichts über das Syndrom. Auch das Internet gibt nicht viel her. Diese Unsicherheit hat uns erstmal sehr hilflos und traurig gemacht. Nicht zu wissen, ob Till jemals laufen und sprechen wird, ob er jemals ein selbstständiges Leben führen wird. Und natürlich haben wir uns auch die Frage gestellt, warum ausgerechnet Till?! Der Gendefekt ist eine Laune der Natur und nicht vererbt. Es ist heute noch manchmal schwer zu akzeptieren.
Wie geht es Till heute?
Heute geht es Till sehr gut. Er ist ein unglaublich fröhliches Kind. Er kann noch nicht sprechen und mich nicht alleine laufen. Er wird noch gefüttert und gewickelt.
Er ist so positiv und geht in eine wunderbare Krippe. Der Kontakt mit anderen Kindern motiviert ihn sehr und er macht tolle Fortschritte.
Er läuft an der Hand und wenn er ganz mutig ist sogar ein paar Schritte alleine. Er ist sehr wackelig auf den Beinen, da sein Bindegewebe sehr weich ist und die Gelenke sehr flexibel sind. Aber er will unbedingt laufen. Und er wird es sicher irgendwann schaffen.
Da er nicht sprechen kann, zumindest nicht unsere Sprache, ist die Kommunikation oft schwierig. Till wird schnell wütend, wenn er sich unverstanden fühlt. Er bekommt bald Logopädie um ihm die Möglichkeit zur Kommunikation zu geben. Er ist etwa auf dem Stand eines Einjährigen, nur die Wutausbrüche und die Trotzigkeit sind altersentsprechend 🙂
Gibt es irgendwelche Prognosen, wie sich Till weiter entwickeln wird?
Tills Syndrom ist so selten, es gibt etwa 150 Fälle weltweit, dass es keinerlei Prognosen gibt. Das Einzige was wir wissen ist, dass die Lebenserwartung ganz normal ist. Till wird uns zeigen, was er alles erreichen kann und wird. Das nimmt den ganzen Drück und die Erwartungen raus. Und das ist ja auch nicht schlecht.
Wie gehen Freunde/Verwandte aber auch Fremde mit Euch um?
Unsere Familien nehmen ihn so wie er ist. Unser kleiner Sonnenschein hat ein so fröhliches, einnehmendes Wesen, dass er alle verzaubert. Auch Fremden in der U-Bahn oder beim Bäcker zaubert er oft ein Lächeln ins Gesicht, wenn er die Menschen anstrahlt. Das einzige optische Merkmal sind die schmalen Augen. Und das fällt anderen Kindern sofort an Till auf. Die Fragen dann oft was mit den Augen des Jungen los ist. Das ist den Eltern dann unangenehm. Solche Situationen sind immer komisch.
Wie gehts Du mit der Situation um?
Mein Mann und ich lieben unseren Kleinen sehr. Für uns ist er ganz normal. Natürlich gibt es Momente, in denen es uns schlecht geht und wir traurig sind. Es ist schwer zu sehen, wie viel jüngere, gesunde Kinder auf ihre Mama zu laufen und sich in deren Arme werfen oder weglaufen und rufen: "Mama, Papa, schaut ma,l was ich kann." Es ist schmerzhaft mit ansehen zu müssen, wie Till vor Wut versucht, den Kopf auf die Tischplatte zu schlagen, weil wir nicht verstehen, was er gerade will oder nicht will.
Till ist sehr geräuschempfindlich und schreckhaft. Es ist unmöglich, mit ihm auf einen gut besuchten Spielplatz zu gehen, weil er die spielenden und quietschenden Kinder nicht erträgt. Obwohl Till nicht sprechen kann, versteht er sehr viel. Wir haben gelern,t ihm alles zu erklären. Wir sagen ihm immer, was wir machen werden und warum.
Till hasst es, wenn Dinge mit ihm passieren. Wenn er einfach ins Auto gepackt wird ohne darauf vorbereitet zu sein und ohne zu wissen wohin die Fahrt geht, flippt er aus und lässt sich kaum wieder beruhigen. Wenn wir ihm aber erklären, dass wir jetzt dann mit dem Auto zu Oma und Opa fahren, dann sind auch drei Stunden Fahrt kein Problem. Wir versuchen immer, ihn genau zu beobachten. Till gibt uns Zeichen und Hinweise, was er braucht und was nicht. Man muss nur wachsam sein und sie bemerken. Und vor allem darauf reagieren. Wenn er nichts mehr trinken will dreht er den Kopf weg. Minimal. Wenn man dann weiter versucht, ihm Wasser einzuflößen, wird er wütend und schlägt einem den Becher aus der Hand.
Was wünscht Du Dir für Dein Kind?
Das ist eine schwierige Frage. Ich wünsche mir, dass es ihm gut geht und er glücklich wird. Und dass er seinen Weg gehen kann und darf. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft ihn akzeptiert und aufnimmt und ihm keine Steine in den Weg legt. Und ich wünsche mir, dass wir es schaffen, ihm genug Liebe und Selbstbewusstsein mitzugeben, dass er mit allem fertig wird. Irgendwann wird ihm seine Andersartigkeit bewusst werden und ich hoffe, das wird nicht allzu schmerzhaft.
Mit welchen drei Worten würdest Du mit dein Kind beschreiben?
Zauberhaft, glücklich, neugierig
Was hast Du Durch Dein Kind gelernt?
9 comments
Danke für deinen Bericht
Hallo!
Ich bin in einer ähnlichen Situation. Etwas anders, aber einiges ist ähnlich.
Wie geht es dem kleinen Till inzwischen? Gibt es Fortschritte, die euch den Alltag weiter erleichtern?
Meine Kleine ist knapp 2,5 Jahre alt und spricht noch nicht. Einiges anderes kommt noch dazu.
Wir haben auch schon etliches durch und waren gerade beim Humangenetiker. Verdacht lautet auch auf eine extrem seltene Krankheit.
Dein Bericht über deine Ängste und Gefühle hat mich zu Tränen gerührt. Das könnten meine Worte sein. Aktuell bin ich arg am Verzweifeln, wie es weitergeht. Aber das wirst du so oder so ähnlich auch kennen.
Liebe Grüße und alles Gute für euch!
Eigene Erfahrung
Hallo Katrin,
ich habe gerade deinen Bericht gelesen. Unser Sohn Conner hat auch einen Gendefekt (Verdopplung Chromosom 1)
Seine Entwicklung ist auch verzögert. Mit 2,5 Jahren fing er erst an zu laufen. Sprechen hat bei ihm auch sehr lange gedauert. Wir haben auch sämtliche Therapien mit ihm gemacht (Physiotherapie, Logopädie, Frühförderung, Ergotherapie usw.)
Deine Geschichte erinnert mich stark an unsere.
Conner ist jetzt 6,5 Jahre und geht auf eine Förderschule für geistige Entwicklung. Er macht tolle Fortschritte. Er ist ein zauberhaftes Kind, allerdings ist der Alltag oft schwer zu meistern. Er hat oft starke Wutanfälle, wenn er mit einer Situation nicht klar kommt, etwas nicht alleine schafft oder er einfach überfodert ist.
Ich hoffe euer Till hat sich schon gut weiter entwickelt.
LG Nadine
Toller Bericht
Ein toller Bericht und noch weiterhin ganz viel Freunde mit eurem Till 🙂
Mich würde es noch interessieren, wie Till das in der Krippe meistert. Du hast geschrieben, dass es auf lauten Spielplätzen oftmals problematisch ist- wurde dafür in der Krippe eine Lösung gefunden? Oder haben die Erzieher da besondere „Kniffe“?
Viele liebe Grüße 🙂
Toller Bericht
Das hat uns selbst am meisten erstaunt. Till hat sich in der Krippe von Anfang an super wohl gefühlt. Und die anderen Kinder dort sind für ihn völlig in Ordnung.
Nur wenn er einen schlechten Tag hat muss er mitweinen, wenn die anderen weinen. Ansonsten ist es dort für ihn okay, wenn die anderen laut und wild sind.
Und die Erzieherinnen sind ganz zauberhaft und versuchen so weit es geht auf ihn Rücksicht zu nehmen ohne ihn zu sehr vor allem zu besprechen beschützen. Da haben wir ganz großes Glück.
Till
Hallo Katrin .Dein Bericht hat mich sehr bewegt zumal ich einen Enkel habe mit 2,5 Jahren der auch diese Anzeichen hat. Bei Ihm wurde auch ein Gendefekt Diagnostiziert aber Sie kennen Ihn nicht und wissen deshalb auch nicht was es für einer ist :-(. Er hat auch eine Muskelschwäche kann deswegen nicht laufen …sprechen leider auch nicht aber die Töne die er von sich gibt sind sehr laut, . Er ist so ein Herziges Kind .was er schon alles durchmachen musste..Hirnwasser Untersuchung Rückenmarkflüssigkeitsentnahme. 2 mal Hodenhochstellung ( OP) .Der zweite Enkel ist nun ein Jahr und bei Ihm ist alles normal er zieht schon an Benni vorbei.Das bricht mir alles das Herz.
UK
Hallo Katrin, toll wie ihr euren Sohn so bedürfnisorientiert begleitet! Das ist ja bei allen Kindern eine Herausforderungen, bei einer Kommunikationsbarriere aber umso mehr. Auch ich habe sofort gedacht, dass Till vermehrte Visualisierung im Alltag vielleicht helfen würde, z.B mit Fotos von häufig wiederkehrenden Aktivitäten/ Personen. Je nachdem wo ihr wohnt könnte eine kostenlose Frühförderung von ausgebildeten Sonderpädagogen möglich sein, das läuft meist über die zuständige Förderschule. Nur falls ihr das nicht schon von eurem Kinderarzt wusstet. Die kennen sich dann auch mit unterstützter Kommunikation aus. Alles Gute für eure Familie und vor allem Till!!!
UK
Vielen Dank.
Till bekommt über die Frühförderstelle Physiotherapie und Logopädie. Die kommen in die Krippe, da dass alles in seinem gewohnten Umfeld stattfindet. Das ist wirklich ganz toll, was es du für Unterstützung gibt.
Und das mit der Visualisierung versuchen wir.
Liebe Grüße
Was für ein schöner Bericht,
Was für ein schöner Bericht, das klingt nach einem fröhlichen, besonderen Kind das ihr habt.
Bestimmt habt ihr euch damit schon beschäftigt.. Nur weil es im Bericht gar nicht erwähnt wird, wollte ich fragen ob ihr schon mit unterstützter Kommunikation (UK) arbeitet?
Viele Grüße,
Anna
Was für ein schöner Bericht
Wir stehen noch ganz am Anfang was Kommunikation angeht. Mal sehen, was die Logopädin so anbietet.
Aber vielen Dank für den Tip. Ich werde mich schlau machen.
Liebe Grüße