Beginnen wir mal provokativ: Eltern sollten ihre Kinder doch intuitiv verstehen. Wozu brauche ich dann Kindergebärden?
Mit Kindergebärden werden Fenster zur Gedankenwelt des Kindes geöffnet , die das Verstehen erleichtern, wenn das Kind noch nicht sprechen kann. Das ist weit aus präziser als das Bauchgefühl. Ein Beispiel: Mein Sohn ist oft „mit einem Fragezeichen im Gesicht“ herumgegangen, weil er etwas suchte. Diesen mimischen Gesichtsausdruck habe ich auch sofort verstanden. Doch was fehlte ihm? Meine Intuition ging nicht so weit, um dies aus dem Bauch heraus zu wissen. Mit einer Kindergebärde, die mein Sohn zusätzlich zeigte, wusste ich jedoch sofort, was ihm fehlte.
Woher stammt die Idee der Kindergebärden?
Unsere Sprache begleiten wir gegenüber kleinen Kindern seit jeher mit bildhaften Handzeichen. Wir führen einen imaginären Becher zum Mund, wenn wir das Wort „trinken“ hervorheben möchten oder neigen den Kopf auf unsere gefalteten Hände, um das Wort „schlafen“ zu verdeutlichen.
Um 1910 hat z.B. die Fröbelschülerin (Friedrich Fröbel ist der Erfinder des Kindergartens) Johanna Spranger-Herz das Buch „Backe, backe Kuchen“ herausgegeben. In diesem Buch werden viele Spiel-Ideen, Lieder und Reime vorgestellt, die mit bildhaften Handzeichen begleitet und auch noch heute so gespielt werden.
In den 1980er Jahren haben die amerikanischen Forscherinnen Susan Goodwyn und Linda Acredolo auch im Alltag mit ihren eigenen Kindern Handzeichen genutzt und festgestellt, dass sich die Kinder viel schneller mit den Händen als mit Worten mitteilen konnten.
Da es nicht für alle Dinge, die im Alltag von Kindern wichtig sind (Spielzeuge, Lebensmittel, Fahrzeuge), überlieferte Handzeichen gibt, sind die Forscherinnen auf die Idee gekommen, für diese Dinge auf Gebärden der Amerikansichen Gebärdensprache zurückzugriefen. Das BabySigning war geboren. Ich nenne das Gebärden mit hörenden Kindern Kindergebärden, da auch ältere Kinder von den Vorteilen profitieren und Freude an Gebärden haben.
Außerdem möchten wir mit Kindergebärden ALLE Kinder ansprechen – egal ob hörend oder hörgeschädigt. Deshalb vereinfachen wir Gebärden nicht. Prof. Dr. Mechthild Kiegelmann (Entwicklungspsychologin) unterstützt diesen Ansatz, wie es aus dem Vorwort zum Buch „Singen, spielen, erzählen mit Kindergebärden“ (Neuauflage 2017) hervorgeht.
Ab welchem Alter kommunizieren die Kinder eigentlich so?
Babys beginnen früh uns nachzuahmen. Sie zeigen mit dem Zeigefinger auf Dinge, winken zum Abschied, zeigen wie groß sie sind, wenn wir sie fragen oder schwenken energisch den Zeigefinger und sagen „Nein!“, wenn sie wissen, dass sie etwas nicht machen dürfen. Das Baby versteht also den Zusammenhang von Handbewegungen und die Reaktion, die es mit diesen erreicht. Die meisten Babys beginnen diese Gesten zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat zu nutzen. Babys sind dann auch in der Lage sich mit Kindergebärden mitzuteilen.
Wie schwer ist es, Kindergebärden zu lernen?
Kindergebärden als Erwachsener zu lernen ist ganz einfach, weil gerade die ersten für Kleinkinder wichtigen Gebärden oft sehr bildhaft sind. Schwieriger ist es dann, auch als Mama, Papa oder Erzieherin daran zu denken, die ausgesuchten Kindergebärden auch regelmäßig zu nutzen – denn das Kind ahmt Kindergebärden nur nach, wenn es diese oft und regelmäßig sieht. Deshalb ist es wichtig, sich zu Beginn Gebärden auszusuchen, die oft am Tag gezeigt werden können. Das sind Kindergebärden z.B. für die Lieblings-Lebensmittel oder die Gebärde für nochmal, um zu fragen, ob ein lustiges Spiel wiederholt werden oder ein Lied nochmal vorgesungen werden soll.
Mit welchen Zeichen Gebärden sollte man beginnen?
Am Besten sucht man sich 8 – 12 Kindergebärden aus, die auch regelmäßig im Tagesablauf gezeigt werden. Wichtig ist, dass wir nicht nur aus Erwachsenensicht „praktische“ Kindergbärden (z.B. essen , trinken, Windel wechseln) aussuchen, sondern auch interessante Gebärden für das Kind auswählen. Das kann z.B. die Kindergebärde für das Lieblingsspielzeug sein oder eine Gebärden für das Haustier.
Verzögert sich die Sprachentwicklung, wenn die Kinder Kindergebärden nutzen?
Nein! Kindergebärden sind ein besonders intensives „Spiel mit den Fingern“ und wirkt sich meiner Einschätzung nach positiv auf die Sprachentwicklung aus. Wenn du im Internet nach den Stichworten „Fingerspiele fördern“ googelst, findest du viele Aussagen, dass diese die Feinmotorik, Kognition und eben auch Sprache fördern. Kindergebärden verstärken diese Wirkung zusätzlich, da du nicht nur Fingerspiele und Lieder mit Bewegungen der Hände begleitetest, sondern auch in allen Alltagssituationen und beim Anschauen von Bilderbüchern benutzt.
Viele halten diese Kurse ja für Frühförderungswahn von Helikopter-Eltern. Was entgegnest Du dieser Kritik?
Nur wenige Eltern sind Helikopter-Eltern. Deren Übermotivation teile ich nicht. Prof. Mechthild Kiegelmann, die ich oben bereits erwähnt habe, schreibt: "Kindergebärden sind eine sinnvolle Ergänzung der Alltagskommunikation, weil sie dazu anregen, sich miteinander zu unterhalten und die eigenen Erfahrungen aufmerksam wahrzunehmen und auszudrücken. Allein die Freude daran, sich mitzuteilen und verstanden zu werden ist es wert, Kindergebärden kennenzulernen, insbesondere für noch nicht oder noch ungenau sprechende Kleinkinder." Diesen Worten schließe ich mich an.
Gibt es Unterschiede bei hörenden und gehörlosen Babys?
Mit Kindergebärden heben wir nur das Schlüsselwort eines Satzes hervor, um das Gesagte zu verdeutlichen. „Guck mal, möchtest du diese Birne essen?“ Hier zeigen wir entweder die Kindergebärde für Birne oder essen. Je nachdem, woauf wir den Schwerpunkt unsere Frage legen. Gehörlosen Kindern muß Gebärdensprache angeboten werden, eine vollständige undvisuelle Sprache mit eigner Grammatik, damit sie sich später mit anderen tauben Menschen unterhalten können.
——MEHR INFOS über Kindergebärden findet Ihr auf Birgits Homepage Sprechende Hände, dort findet Ihr neben zahlreichen Informationen, Spiel-Ideen und Videos auch 100 kostenlose Gebärdenillustrationen, sowie Birgits Bücher zu dem Thema.