Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner eigenen Mutter. Warum ich den Kontakt abgebrochen habe, ist eine lange Geschichte. Zuerst möchte ich auf die Frage antworten, WANN ich den Kontakt abgebrochen habe. Es war, als ich selbst Mutter wurde und dadurch feststellte, dass meine eigene Mutter wirklich eine sehr schlechte Mutter war und ist.
Warum habe ich den Kontakt also abgebrochen? Zunächst einmal muss man wissen, dass ich ein Unfall war, meine Mutter war gerade mal 18 Jahre alt und sie musste meinen Vater heiraten, damit es im Dorf kein Gerede gibt.
Meine Großeltern waren gegen diese Ehe. Sie konnten meinen Vater, der scheinbar ein Taugenichts und Säufer war, nicht ausstehen.
Es kam, was kommen musste: An meinem ersten Geburtstag stritten sich meine Eltern so sehr, dass meine Mutter mit mir zu meinen Großeltern zog. Die Scheidung folgte bald. Als ich drei Jahre war, ging meine Mutter wieder arbeiten und meine Großmutter betreute mich. Worüber sie nicht glücklich war und mich das auch oft spüren ließ.
Meinen leiblichen Vater lernte ich nie kennen, es hieß, er würde trinken und keinen Unterhalt zahlen. Er erschien auch nicht zu den Umgangswochenenden mit mir, sondern gründete einfach eine neue Familie.
Meine Mutter hatte verschiedene Freunde – im Gedächtnis sind sie mir nicht geblieben. Nur einer. Der, für den sie mich verlassen hat. Als ich zehn Jahre alt war, ist sie einfach zu ihm gezogen. Ohne mich. Erst Jahre später traute ich mich zu fragen, warum sie mich zurück gelassen hatte. Sie sagte, ich hätte es bei meiner Oma besser gehabt, da wären ja auch meine Freunde in der Nähe. Und ihr Freund habe keinen Platz für mich in der Wohnung gehabt. Dass ihr Freund auch zu uns ziehen hätte können, kam ihr wohl nicht in den Sinn.
Ich sah meine Mutter nur noch alle zwei Wochen, sie arbeitete zudem im Schichtdienst. Wenn ich von der Schule kam, war sie nicht da. Und abends war sie müde, ging schlafen oder noch mit Kollegen ein Feierabendbier trinken.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind manchmal darüber nachdachte, mich zu verletzen, damit ich ins Krankenhaus muss. Ich stellte mir vor, dass meine Mutter dann am Krankenhausbett sitzt, sich kümmert, sich sorgt. Danach sehnte ich mich so.
In der Schule war ich der totale Exot: das einzige Scheidungskind. Aber nicht nur das – ich kannte zudem meinen Vater nicht. Ständig musste ich erklären, warum ich bei meinen Großeltern lebe, warum meine Großmutter alles unterschrieb und nicht meine Mutter. Für mich als Kind war ein Spießrutenlauf. In der Grundschule gab es eine einprägende Situation. Die Hausaufgabe lautete: „Malt Eure Familie.“ Da sagte eine Mitschülerin allen Ernstes: „Das ist unfair. Yvonne hat kaum was zu tun, die muss nur ihre Mutter malen.“ Alle lachten, ich fing an zu weinen.
Ein „Ich hab Dich lieb“ gab es bei uns zu Hause nicht. Anerkennung bekam ich nur, wenn ich gute Noten nach Hause brachte. Ich setzte mich selbst enorm unter Druck, ständig beste Leistung bringen. Gute Noten in der Schule, später Karriere, eine Beförderung, einen perfekten Freund.
Anfang 20 spitzte sich die Lage zu. Ich begann, meine Mutter zur Rede zu stellen. Sie jammerte nur. Sie sei selbst auch nur ein Opfer, ein Opfer ihrer eigenen herrischen Mutter, ihrer frühen Schwangerschaft, meines Vaters.
Ich merkte, wie sehr mich alles belastete. Ich bekam Depressionen, nahm Anti-Depressiva. Doch mein Schmerz saß einfach zu tief. Ich trank zu viel Alkohol und brach mit 29 zusammen. Ich ging in Therapie, kam wieder auf die Beine. Ich lernte meinen jetzigen Mann kennen und bekam mit 34 Jahren ein Kind.
Dieses Kind und eine vierjährige Therapie brachten den Durchbruch. Ich merkte plötzlich, dass meine Kindheit nicht normal gewesen war. Dass es nicht okay war, dass meine Mutter ohne mich ausgezogen war. Als ich meinen kleinen Sohn im Arm hielt und von unendlicher Liebe durchströmt war, fragte ich mich: Wie kann eine Mutter ihr Kind zurücklassen?
Als mein Sohn geboren wurde, hoffte ich dennoch auf Unterstützung von meiner Mutter. Dass sie mich besuchen kommt, mir hilft. Doch es war wieder mal alles anders. Sie erwartete, dass ich ihr ihren Enkel bringe. Und wenn ich mit dem Baby da war, erzählte sie mir nur, was ich alles falsch mache. Ich würde zu viele Feuchttücher benutzen, die Windeln falsch wechseln, der MaxiCosi sei nicht gut für die Haltung des Kindes, das Kind sei zu warm/zu kalt angezogen.
Meine Mutter weckte das schlafende Baby ständig, damit sie auch „was von ihm hat“, wenn ich schon mal da war! Sie packte ihn grob an, um ihn abzuhärten, sie wolle kein Weichei als Enkel.
Eines Tages dann krachte es dann endlich richtig. Meine Mutter machte mich mal wieder runter, beschimpfte mich vor meinen Großeltern – da brach alles aus mir heraus. Meine jahrelang aufgestaute Wut, meine Trauer. Ich warf ihr an den Kopf, dass sie mich verlassen habe und was ich davon halten würde. Kurz: Es war eine sehr hässliche Situation, die ich verließ, nachdem sie mich als undankbares Gör beschimpfte.
Als ich ging, löste sich ein enormer Druck von meinem Brustkorb. Es war, als könnte ich seit langer Zeit mal wieder durchatmen.
Kurze Zeit später zog ich mit meiner Familie nach Frankreich, in die Heimat meines Mannes. Mit diesem Umzug kam es am Telefon dann auch mit meiner Oma und meiner Patentante zum Bruch. Es war ein schreckliches Gespräch, danach löschte ich alle Kontaktdaten aus meinem Handy und auch die Facebook-Verbindung.
Jetzt sollte man denken, hier ist meine Geschichte zu Ende. Aber nein, es gibt einen zweiten Teil. Und der dreht sich um meinen Vater.
Durch viele Zufälle lernte ich einige Monate nach meinem Umzug meinen Vater kennen. Wir telefonierten, ich stellte alle Fragen, die ich hatte und er antwortete. Und plötzlich erschien alles in einem anderen Licht. Meine Großeltern waren so sehr gegen diese Ehe gewesen, dass sie nach der Scheidung alle Kontaktversuche abblockten. Meine Mutter war es, die nicht zu den Umgangswochenenden erschien, er war auch kein Säufer, wie immer behauptet wurde. Er sagte, er habe irgendwann aufgehört, um mich zu kämpfen, weil er keine Kraft mehr gehabt hatte.
Und nun musste ich damit zurechtkommen, dass ich mein bisheriges Leben in einer Lüge gelebt hatte. Manchmal hasse ich meine Mutter für all das, manchmal habe ich fast Mitleid mit ihr. Aber dann denke ich mir: Sie hat nicht mal mein Mitleid nicht verdient.
—-ZUM WEITERLESEN:
– Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern
-Wenn Kinder den Kontakt abbrechen- Interview mit einer verlassenen Mutter
– Zwei Familiengeschichten – warum wir keinen Kontakt mehr haben
12 comments
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Ein mitreißender Beitrag
Auch wenn du deine Kindheit nich normal und so glücklich unbeschwert leben konntest wie andere, es ist nur ein Teil. Dein Leben ist noch lang und du bist der Macher deines Lebens. Deine Mutter und auch Großeltern stehen sich selbst im Weg. Du gehst aber deinen Weg.
Zu tränen gerührt
Mensch jette, deine Worte haben mic sehr berührt. Danke für deine Anteilnahme
Liebe Yvonne,
Liebe Yvonne,
Dein Beitrag hat mich berührt, vielen Dank, dass Du die Geschichte geteilt hast. Deine schrecklichen Kindheitserfahrungen haben Dich natürlich sehr geprägt. Du hast viel Verzicht erleben müssen und bist in dauerhaftem Mangel an Liebe -bedingungsloser Liebe- aufgewachsen. Du scheinst eine unzerstörbare Kraft entwickelt zu haben, um diese Erfahrung als Kind aushalten zu können. Sie nur, was für ein emphatischer Mensch aus Dir geworden ist und welche Fähigkeiten Du besitzt. Du bist stark, mutig und in der Lage, Liebe zu schenken. Wer weiß denn schon, ob diese Stärken bei Dir genauso ausgeprägt sein würden, wäre Dein Leben anders verlaufen. Deine Kindheit ist ein Puzzleteil von Dir, es ist Deine Geschichte; nimm sie an als Teil Deines Lebens und sei dankbar für alles, was Du hast und geben kannst, denn wer weiß besser als Du, dass das nicht selbstverständlich ist?! Hass kostet viel Kraft, die Du als Mutter viel besser für Dein Kind nutzen kannst, denn Kraft hat jeder ja nur in Maßen zur Verfügung. Du kannst wirklich stolz auf Dich sein und Deine Männer zu Hause glücklich, dass Du so bist, wie Du geworden bist.
Alles Gute für Dich!
Jette
Bruch
Das Gefühl die Mutter zu hassen kenne ich. Aber heute weiß ich, dass der Bruch alleine und der Hass nicht das Ende sind. Erst wenn der Hass verblasst und die Gleichgültigkeit gegenüber der Mutter da ist – erst dann hast Du es geschafft und hast endgültig mit ihr gebrochen. Ich war erst dann frei von meiner Mutter. Und bis der Hass verblasst war hat es Jahre gedauert. Warum ich den Hass nicht gut finde ? Weil Hass auch noch ein Gefühl für diese Person ist. Sie hat aber keine Gefühle von mir verdient. Außerdem mach der Hass einen selbst verwundbar. Er kommt immer wieder hoch und tut weh. Du hast jetzt Deine eigene Familie- das zählt. Und nicht wo Du herkommst!
Danke für deine Mut machenden Worte
Liebe Buitta, das hast du toll auf den Punkt gebracht. Ich arbeite im Moment dara, mich von diesem doch sehr starken Gefühl zu befreien ….
Ja darf man..definitiv
Ich habe eine ähnliche Geschichte und bin froh zu lesen, dass du dein vater noch gefunden hast!!! Alles gute für dich und deine Familie..lg denise
Hasse sie nicht, dir und
Hasse sie nicht, dir und deinem Kind zu Liebe, denn sie ist ein Teil von dir. Sie macht dich aus. Sie hat dir und damit auch deinem Kind euer Leben geschenkt. Das was ihr daraus macht ist das was euch bleibt! Hasst du Sie wirst du auch immer einen Teil von dir hassen! Mir ging es um so vieles besser, als ich es geschafft habe mir innerlich zu sagen, danke, das war genau das was ich brauchte um zu der zu werden die ich heute bin. Und da bin ich stolz darauf
Stimmt nicht
Das kann man so nicht sagen. Ich sage immer: Mutter wird man einfach so, aber um eine Mama zu sein muss man sich bemühen.
Nur weil eine Frau mich in die Welt gesetzt hat, bin ich ihr nicht zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Entscheidend ist doch, was sie danach tut. Ich stimme aber zu, dass es erst wirklich gut wird, wenn man eine gewisse Gleichgültigkeit erreicht hat.
Das stimmt
Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Ich will auch keinen. Nie wieder. Er verdient nichts von meiner Liebe, der Liebe meines Kindes, unsere Aufmerksamkeit usw. Ich arbeite an meiner Gleichgültigkeit, jeden Tag. Dieser Mann hat keinerlei Anteil an dem Menschen, der ich bin und sein werde. Er ist Teil der Person, die ich gewesen bin. Vergangenheit. Für immer