Unsere Tochter Nadine war schon immer ein sensibles Kind. Sie hat schon als Kindergartenkind extrem deutlich gespürt, wie und was andere Menschen ihr gegenüber empfinden. Mit der Einschulung wurde alles schwieriger. Die Klasse war laut, sogenannte Problemkinder waren quasi Massenware. Sie wollte nicht in die Schule gehen, wir gingen mit ihr zum Psychologen. Er testete und testete.
Am Ende sagte er uns, das Kind sei sehr sehr intelligent (der Wert lag 5 Punkte unter der Grenze zur Hochbegabung) und hochsensibel. Was das bedeutet konnte er uns nur bedingt klar machen. Sie musste also lernen, mit ihrer Sensibilität umzugehen, Stimmungen und Gefühlslagen in allen Lebenssituationen einzuordnen lernen.
In der vierten Klasse dachten wir, sie hätte es geschafft. Die Schulklasse hatte sich berappelt, einige Kinder waren umgezogen bzw an Förderschulen gewechselt. Alles lief ruhiger. Die Klassenlehrerin hatte ein gutes Gefühl. Unsere Tochter hatte Freundschaften geschlossen, sie war selbstbewusst und fröhlich.
Und: Sie war verliebt! Sie fragte den Jungen, ob er "mit ihr gehen" wolle und er sagte "Ja!". Er besuchte uns zu Hause, ging mit uns ins Schwimmbad, sie besuchte ihn. Sie war soooo glücklich. Er wollte nicht, dass irgendjemand von "ihrer Beziehung" weiß. Also sagte sie es niemandem. Nur einmal auf dem Schulhof ihrer besten Freundin. Und diese posaunte es sogleich herum. Er wurde von den anderen Jungs ausgelacht und gehänselt.
Natürlich hat er sofort mit ihr Schluss gemacht – und ihr Martyrium begann.
Es waren Kleinigkeiten, die eigentlich gar nicht groß auffielen. Im Vorbeigehen hat jemand den Fuß vor den Trolley geschoben, so dass er umkippte – jeden Tag morgens und mittags. Manchmal einmal, manchmal immer, immer wieder.
Wenn sie etwas falsches im Unterricht sagte, wurde sie ausgelacht. "Typisch Nadine" hörte sie mehrmals täglich.
Im Sport wurde sie plötzlich in kein Team mehr gewählt. Keiner der Jungs wollte sie dabei haben. Die Mädchen machten zügig mit. Wenn sie im Unterricht öfter angesprochen wurde als einige Jungs, wurde es noch schlimmer. Also meldete sie sich überhaupt nicht mehr.
Im Vorbeigehen wurden ihr Boshaftigkeiten ins Ohr geflüstert.
Sie hat unglaublich gelitten. Ihre Hochsensibilität hat es nur noch schlimmer gemacht für sie. Ein Jahr lang schaukelte die Situation sich immer höher bis sie eines morgens sagte: "Ich gehe da nie wieder hin. Eher bringe ich mich um!"
Am Vortag hatten Kinder ein Spielzeug, das sie für die Klasse mitgebracht hatte durch den Raum geworfen und jeder, der es berührte hatte nun die Nadine-Seuche. Alle schrien laut und lachten. Grausam für unser Kind.
Ich behielt sie zu Hause. Zum Glück war ich zu der Zeit auch gerade zu Hause und musste nicht wie sonst ins Büro hetzen. Ich hatte Zeit für sie und ihre Probleme und das war gut so.
Wir riefen in der Schule an und schilderten die Situation. Die Klassenlehrerin war erschrocken. Sie wusste, dass die Kinder nicht zimperlich miteinander umgehen, aber dass es so schlimm war, hatte sie nicht gewusst. Heuchlerisch, wie wir fanden. Es fand doch alles vor den Augen der Lehrer statt.
Zum Glück hatte unsere Schule wenige Wochen zuvor eine Schulsozialarbeiterin bekommen. Wir gingen noch am selben Tag zu ihr. Wir konnten ihr die Situation schildern, Nadine konnte sich aussprechen und wurde gehört. Auch ich konnte deutlich machen, wie belastend die Situation für uns alle war. Ich litt mit meinem Kind mit und konnte nichts tun.
Jedes Gespräch, das ich bis dahin mit Eltern und Schule geführt hatte, hatte die Situation nur noch schlimmer gemacht. Eine Mutter sagte sogar zu mir, Nadine habe doch selber Schuld, wenn sie sich nicht wehrt. Wie denn bitte? Ein kleines Mädchen (sie ist tatsächlich klein und eine der jüngsten in der Klasse) gegen drei bis vier Jungs?
Die Sozialarbeiterin bat Lehrer, Kinder und Eltern zum Gespräch. Alle halfen, Umgangsregeln aufzustellen. Die Kinder legten Konsequenzen für unangemessenes Verhalten fest. Sie mussten sich formal und mit großem Aufwand bei unserer Tochter entschuldigen.
Die Schule holte zudem einen Anti-Mobbing-Spezialisten in die Klasse, der zusammen mit der Schulsozialarbeiterin mit den Kindern einen Workshop durchführte.
Die Schulleiterin und ich hatten engen Kontakt. Wir telefonierten über einige Woche täglich morgens um 7 Uhr, wie es meiner Tochter heute ginge. Sie begrüßte sie am Schultor und freute sich über jeden Tag, an dem sie leichtfüßiger das Schulgebäude betrat. Dies hat unserer Tochter ungemein geholfen. Sie wurde gesehen und wahrgenommen.
9 Monate später geht es ihr heute gut. Wenn ich sie heute frage, was am Schlimmsten war in dieser Zeit, sagt sie mir, das Wegschauen der Anderen. Das Stillsein der Freundinnen. Die Hilflosigkeit.
Kürzlich hatten die Jungen ein anderes Mädchen ausgepickt, um es zu mobben – mit Sprüchen, Bemerkungen und Tritten. Meine Tochter hat sich mutig dazwischengestellt! Sie hat nicht weggeschaut. Die anderen Kinder haben sich auf ihre Seite gestellt und geholfen. Sie schauen nicht mehr weg. Sie helfen. Sie stehen für einander ein. Trotzdem freuen wir uns auf den letzten Schultag in diesem Schuljahr. Die Grundschulzeit ist dann vorbei. Neue Schule, neue Kinder, neues Glück.
Foto: Pixabay
5 comments
Meiner Tochter geht es
Meiner Tochter geht es ähnlich. Sie wehrt sich aber oft. Immer die gleichen Mädels, mit den fiesen Kommentaren. Bis am Donnerstag Abend eine böse whatsapp kam. Und am Freitag morgen wieder eine. Ich schaltet Lehrer und Rektor ein. Mir wurde ermuntert eine Anzeige zu erstatten. Der Täter entlarvte sich selber… eine andere habe ihm den Auftrag gegeben. Mit den zwei Kindern habe ich züchtig geschumpfen.
Wir waren bei der Polizei, verzichten auf Anzeige, die Betroffenen Familien bekommen von der Polizei Besuch.
Die einte Mutter rief mich an und schimpfte böse mit mir, sie wird Anzeige gegen mich erstatten…
Nun, ich habe mich für meine Tochter eingesetzt und sie findet es richtig. Was passiert aber jetzt wenn ich eine Anzeige bekomme? Ist es nicht mehr erlaubt, Täter zur Rechenschaft zu ziehen?
Schmerzerfüllt erinnere ich
Schmerzerfüllt erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit. Als einzige Ausländerin an einer Realschule im Ostdeutschland der 90er Jahre hatte ich es nicht leicht und wurde sehr willkürlich und gemein von Schülern und leider auch Lehrern behandelt. Ich sah unwesentlich anders aus, als meine Mitschüler und das war ihnen Grund genug, mich täglich zu schikanieren und zu belästigen. Grundsätzlich auch vor den Augen der Lehrer, die abgestumpft und schulterzuckend herumstanden.
Ich war ihnen ausgeliefert und keiner hat mir geglaubt. Angeblich war ich immer selbst an allem Schuld. Wenn ich mich gewehrt habe, wurde es noch schlimmer. Später habe ich eine Therapie deswegen gebraucht.
Mir wurde nie richtig geholfen.
Ich freue mich trotzdem sehr für das Kind in diesem Bericht, dass es die Hilfe bekam, die es brauchte, dass es gehört wurde. Das die Mitschüler einsichtig wurden und umgedacht haben.
Und ich werde alles tun, das mein Kind möglichst nie in diese Mobbing-Spirale gerät.
Danke
Hallo Anne, normalerweise kommentiere ich nie. Aber nach diesem Artikel muss ich einfach danke sagen. Vor 28 Jahren ging es mir ähnlich. Leider gab es keine Sozialarbeiter damals. Zu Hause hab ich mich nicht getraut was zu sagen, da ich für meinen Vater immer die „Große“ war und meine Mutter sehr mit meinem kleinen Bruder beschäftigt war. Ich war damals wegen 1000 Dingen krank und wollte nicht in die Schule. Zum Glück ist der beste Freund von mir die Zeit gewesen, denn nach 8 Wochen Sommerferien hatten sich die Wogen geglättet. Allerdings waren die fast 4 Monate vorher die Hölle für mich.
Dieses Trauma hängt mir auch heute noch nach, denn ich kann mit Zutückweisungen sehr schlecht umgehen. Inzwischen habe ich meinem Mann davon erzählt, so kann er manchmal meine Reaktionen zu bestimmten Situationen besser verstehen. Ich hoffe, dass dank deines und ähnlicher Beiträge die Eltern aufmerksamer werden und nicht nur die Betroffenen reagieren sondern auch Eltern von „Anstiftern“ sich mal überlegen, was da mit einer Seele geschieht und wie es wäre, wenn es in der eigenen Familie wäre.
Liebe Grüße
Hallo Anne,
Hallo Anne,
erstmal vielen Dank für deinen tollen Blogartikel zum Thema „Wie Mobbing unserer Tochter das Leben schwer machte…“. Mobbing ist ein schwerwiegendes Problem und kann schlimmstenfalls ganze Leben zerstören. Gerade in Schulen oder Ausbildungsstätten wird Mobbing oft sehr spät oder gar nicht bemerkt. Ein guter Schritt um Mobbingfälle zu vermeiden ist die sogenannte Mobbingprävention an Schulen. Als Eltern ist man dabei sehr oft machtlos und erkennt oft sehr spät was eigentlich los ist. Ich empfehle jedem wenn sie Veränderungen bei ihrem Kind erkennen, nachzuhaken und die Ursachen zu erforschen. Des Weiteren bin ich der Meinung, dass Kinder, Jugendliche und Heranwachsende über Mobbing, Cybermobbing und dessen Folgen aufgeklärt werden sollten. So könnten viele Fälle von Mobbing vermieden werden. Den jeder Fall von Mobbing ist einer zu viel! Freut mich zu hören, dass es ihrer Tochter wieder gut geht! Viel Erfolg für die weitere Schullaufbahn! Sie möchten mehr über Mobbing erfahren?
http://www.wunschschmiede.com/mobbing-in-der-schule/
Danke für diesen Beitrag denn Mobbing betrifft alle
Liebe Anne,
meine Schwester ist als Jugendliche in der Klasse gemobbt worden und lange hat niemand etwas gemerkt. Es war eine sehr schwere Zeit für sie und noch heute sprechen wir darüber. Erst der Klassenwechsel, nach dem endlich alle Bescheid wussten, beendete das Ganze. Wie viel Früher hätte jemand etwas bemerken müssen, die Lehrer die Schüler die nicht gemobbt haben, Freunde, die Eltern, die Schwester. Diese Erfahrung kann niemand mehr loswerden und deswegen wäre es so gut wenn viele Hinschauen! Jedes gemobbte Kind ist eines zuviel.
Und gemobbt kann jeder werden unabhängig von seinem Charakter seinem Wesen, seinem Aussehen, seiner Intelligenz.
Ich finde du hast super reagiert und auch die Sozialarbeiterin. Solche Hilfen gab es vor ca. 25 Jahren noch nicht bzw. wir wussten es nicht besser, konnten es nicht besser. So eine Aufarbeitung mit der Klasse zusammen hätte unserer Familie damals auch geholfen.
Danke für deinen Bericht.