Ihr Lieben, diesen Gastbeitrag einer Leserin müssen wir behutsam ankündigen, denn Sabines Vater war nicht nur alkoholkrank, sondern kam ihr auch zu nah. Der Beitrag beinhaltet keine Details, aber wem sich jetzt schon die Nackenhaare sträuben, der möge an dieser Stelle selbst entscheiden können, ob er weiterlesen mag. Danke für euer Verständnis. Und Sabine: Danke für dein Vertrauen.
Eigentlich spielt es in meinem alltäglichen Leben schon lange keine Rolle mehr. Und doch…
…plötzlich ist alles wieder da.
Ausgelöst durch den süßlichen Bier-Atem eines Fremden, die „netten“ Geschichten von damals, die von meinem Vater erzählen, der „ja schon immer gerne gefeiert und getrunken hat“ oder auch „ja, nach 1-2 Bierchen war er charmant und anhänglich“. Charme ist nicht alles, und ein betrunkener Vater (oder eine betrunkene Mutter) gibt keinem Kind das Gefühl von Vertrauen, Verlässlichkeit und Geborgenheit.
„Wir trinken doch alle mal was, aber gleich von ,Alkoholiker` zu reden, – also wirklich – das geht doch zu weit. Respektloses Gör!“ Ich war gerade 15 Jahre alt, als ich begann, mich aus diesem Sumpf zu lösen. Ich kannte den Unterschied zwischen etwas trinken und Alkoholismus leider nur zu gut.
Ja, mein Vater war Alkoholiker. ,War´ nicht etwa, weil er den Absprung und Entzug geschafft hätte, sondern weil er sich vor über fünf Jahren mit multiplem Organversagen zu Tode gesoffen hat. Das hört sich hart an und genau das war es auch, vor allem für meine Mutter, meinen Bruder und mich.
Was mir an seinem frühen Tod leid tut? Das ist schnell beantwortet:
Ich bedauere meine Oma zutiefst, da sie ihre beiden Kinder überlebt hat (meine Tante starb vor vielen Jahren) und an diesem Schmerz schier zerbrochen ist.
Und ich trauere um den Vater, den ich nicht hatte, sowie die Möglichkeit, „reinen Tisch“ mit ihm machen zu können. Er starb relativ überraschend, so dass ich mich nie mit ihm aussprechen, ihn konfrontieren konnte, all das, was unausgesprochen blieb.
Denn mit dem Alkohol in seinem Leben fingen auch die „Besuche“ in Badezimmer und meinem Kinderzimmer an. Über Jahre hinweg war ich die gefügige, süße Zweit-Frau meines Vaters ohne Wissen meiner Mutter.
Wie ich das verkraftet habe? Ich weiß es nicht. Bis ich Mitte 20 war, existierte dieser Teil meiner Kindheit nicht oder nur bruchstückhaft in meinem Gedächtnis. Aber zumindest eines habe ich mittlerweile begriffen: Irgendwann holt es dich ein. Irgendwann funktionieren die besten Verdrängungsmechanismen nicht mehr.
Da sehe ich meine damals 5-jährige Tochter auf den Opa zulaufen und alles in mir schreit „Nein, komm` zurück, fass` sie nicht an“. Und da sind sie, von einer Sekunde auf die andere, die Erinnerung, die Angst, die Übelkeit, die Scham. Jahrelang in die dunkelsten Winkel meines Gehirns und meiner Seele gestopft und zugeschüttet.
Mit voller Wucht hat es mich da gepackt. Und trotz wunderbarer Menschen wie meinem Mann oder meiner besten Freundin schlitterte ich ohne Umwege in eine Depression.
Mein Vater war keiner, dem man seine Sucht sofort angesehen hätte. Der schöne Schein, die Fassade blieb lange intakt. Nur die Abstürze am Wochenende, die das Pegeltrinken unter der Woche oft nach sich zog, kamen in immer kürzeren Abständen. Doch im Alltag funktionierten wir alle und wahrten den Schein von der ach so perfekten Familie. Offensichtlicher waren die Geldprobleme, die Schulden, die Zwangsversteigerung des selbst erbauten Hauses. Einer geregelten Arbeit konnte mein Vater bald nicht mehr nachgehen. Er hangelte sich von einer selbständigen Beschäftigung zur nächsten, bis er zuletzt nur noch zu Hause saß, trank und sich bemitleidete.
Sein Tod war ein Schlusspunkt und zugleich ein Anfang.
Heute geht es mir gut. Ich habe einen tollen Ehemann, zwei bezaubernde Kinder und einen kleinen, aber feinen Freundeskreis von Menschen, die mir am Herzen liegen. Ich habe mir Hilfe gesucht und eine Therapie gemacht. Mein nächstes Umfeld kennt meine Geschichte und hat Verständnis, wenn ich mal eine schlechtere Zeit durchmache.
Die „netten Geschichten von damals“ treffen mich nicht mehr. Und die Einladung zu einem Drink kontere ich mittlerweile gelassen. Nein, Danke, ich trinke nicht.
Zum Weiterlesen: Auch Leserin Julia hat uns von ihrer Kindheit mit einem alkoholkranken Vater erzählt. Und Nahla erzählt, wie sie ihre eigenen Kinder erzieht, wo ihr ein eigenes Eltervorbild fehlt.
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