Ihr Mann wurde zu 1000 Peitschenhieben verurteilt. Ensaf Haidar (im Foto links mit den Kindern) ist die Frau des saudischen Bloggers Raif Badawi. Wie hält sie das alles aus? Indem sie die Kinder zur Schule bringt und wieder abholt. Indem sie einen normalen Alltag in dieser unnormalen Situation aufrecht zu erhalten versucht. Einen Familien-Alltag im Ausnahmezustand. Der Journalist Lukas Hermsmeier (im Foto rechts) hat sie im kanadischen Exil besucht, wir durften ihn zu seinem Besuch interviewen.
Raif Badawi (31) hat 2008 das Online-Forum „Freie saudische Liberale“ mit gegründet. Er setzte sich darin unter anderem für religiöse Toleranz ein. Er hat gebloggt und seine Meinung kundgetan – in Saudi-Arabien. Dafür sitzt er nun im Gefängnis.
Mittlerweile gilt Badawi als Symbolfigur für den Kampf um Menschenrechte im Nahen Osten. Seine Strafe: Zehn Jahre Gefängnis, 250.000 Euro Geldstrafe und 1000 Peitschenhiebe. 50 davon erhielt er im Januar, öffentlich. Er wurde schwer verletzt. So schwer, dass die nächsten 50 Hiebe verschoben werden mussten.
Raif Badawi ist aber nicht nur Gefangener, sondern auch Ehemann und Vater dreier Kinder im Alter zwischen 7 und 11 Jahren.
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Wie fühlt sich eine Frau, deren Mann zu Folter verurteilt wurde, weil er ein Blog schrieb? Wie erklärt Ensaf Haidar (36), die Ehefrau von Raif Badawi, den Kindern, wo Papa ist und was mit ihm geschieht? Wie erlebt sie den Alltag? Gibt es überhaupt einen?
Gern hätten wir selbst mit Ensaf gesprochen, aber sie spricht kein Englisch und mit einem Übersetzer wäre es über die Distanz kompliziert geworden. Also schildert Hermsmeier, der zurzeit als Korrespondent in New York lebt, in einem Interview seine Eindrücke vom Besuch bei der Familie des Bloggers in Kanada.
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Lukas, Du bist nach Kanada geflogen, um die Familie von Raif Badawai zu treffen…
Ja. Circa zwei Wochen vorher habe ich mit dem Tagesspiegel über mögliche Themen gesprochen. Und dabei kam dann die Idee, die Frau von Raif Badawi zu besuchen. Ich bin also im Auftrag des Tagesspiegels hingefahren. Daraus entstand der Text „Leben im Ausnahmezustand“.
Ein zu Herzen gehender Text. Hast Du denn problemlos ein Treffen mit ihr vereinbaren können?
Ein befreundeter Journalist hat den Kontakt zu Ensaf Haidar hergestellt. Ich habe ihr erklärt, worum es mir geht und sie hat sich sehr schnell bereit erklärt. Ich hatte dann einen Übersetzer dabei.
Und worum ging es Dir?
Erstmal denke ich, dass über diesen Fall, also Raif Badawis Schicksal, nicht genug berichtet werden kann. Das Interesse der Medien ist oftmals absurd protagonistenbezogen. Es wird sich ein Fall herausgepickt und über den dann ausführlich berichtet und manchmal vergessen, dass es so viele andere Schicksale gibt. Das ist, wie gesagt, absurd. Andererseits hat man so die Chance, über das Einzelschicksal auf größere Probleme aufmerksam zu machen. Und genau so ist es bei Raif Badawi. Er steht repräsentativ für Vieles, was man kritisieren und anklagen muss. Und dann hat mich im Speziellen interessiert, was für einen Alltag seine Frau lebt und wie sie ihn bewältigt…
Was für ein Alltag ist das, gibt es überhaupt einen Alltag?
Das Irre ist ja: Es muss einen Alltag geben. Denn Ensaf Haidar und ihre drei Kinder wohnen seit Ende 2013 in Kanada. Ich hatte das Gefühl, sie haben sich einen Alltag im Ausnahmezustand eingerichtet. In einem fremden Land, mit völlig neuem Umfeld, kaum Bezugspunkte, fremde Sprache.
Aber: Sie bringt ihre Kinder jeden Tag zu Schule, holt sie ab, kocht für sie, hilft bei den Hausaufgaben und so weiter. Das sind natürlich Alltagsstrukturen.
Die sie vielleicht auch am Leben erhalten…
Ja. Ensaf Haidar hat gesagt, dass am Schwierigsten das Nichtstun zu ertragen sei. Wenn es keine Aufgaben gibt, wird die Hauptaufgabe Denken und Grübeln und Zweifeln und das ist in ihrem Fall kaum auszuhalten.
Wissen die Kinder, dass ihr Vater ausgepeitscht wird?
Die Kinder wissen, dass er im Gefängnis sitzt und was ihm vorgeworfen wird. Sie wissen auch, dass er dort sehr leidet. Ich glaube aber nicht, dass sie im Detail wissen, wie die Strafe aussieht. Zumindest nicht die jüngste Tochter…
Aber Ensaf weiß das. Sie hat sich sogar das Video angeschaut, stimmt das?
Ja, hat sie.
Und würde sie das nochmal tun?
Nein, sie bereut es.
Wie hält sie das aus?
Sie hält es aus, indem sie sich um ihre Kinder kümmert, indem sie für ihren Mann kämpft, Telefonate führt, E-Mails schreibt, Politiker trifft etc., also indem sie beschäftigt ist. Und dann gibt es Phasen und Momente, die dunkler sind. Wo sie an das Schlimmste denkt und der Alltag sie nicht ablenken kann.
Ich kann mir vorstellen, dass der Papa in den Köpfen von Ensaf und den Kindern immer präsent ist. Inwiefern ist er das im Alltag?
Ich glaube, dass sich der Mensch an fast alles gewöhnen kann. Und insofern hat sich Ensaf eben auch an diese erdrückende Ungewissheit, an die Ferne und Sehnsucht gewöhnt. Weil sie musste.
Zur Präsenz im Alltag: Es hängen Fotos von Raif in der Wohnung, sie sind aber nicht überpräsent. Ensaf denkt rund um die Uhr an ihn, alleine weil sie ja rund um die Uhr für ihn und seine Freilassung kämpft.
Und ich denke, dass die Kinder es noch besser hinkriegen, auch mal unbekümmert zu sein. Ensaf hat gesagt, dass sie sich über nichts im Leben so richtig freuen kann. Da ist immer diese dunkle Wolke. Die Kinder, zum Glück, können das.
Wie oft haben Ensaf und Raif Kontakt?
Sie telefonieren in unregelmäßigen Abständen. Er darf manchmal aus dem Gefängnis anrufen.
Und telefoniert er nur mit ihr oder auch mit den Kindern?
Ja, auch mit den Kindern. Ich war dabei, als er angerufen hat. Und als Dudi, der Sohn, das Telefon dann hatte, ist er in sein Zimmer gegangen und hat während des Telefonierens mit einem Ball gespielt. Ich fand interessant zu beobachten, wie selbst die Anrufe des Vaters in den Alltag integriert sind und eben auch etwas Normales haben.
Das klingt so normal in dieser unnormalen Situation. Wie hast Du die Stimmung in dieser Familie erlebt? Würde man ihr auf den ersten Blick anmerken, was sie durchmacht? Oder spürt man eine gewisse Traurigkeit oder Melancholie?
Ich hab ja auch nur einen Ausschnitt erlebt und will diesen Ausschnitt nicht überinterpretieren. Aber Ensaf wirkte so müde. Und ich glaube, Angst und Wut und all diese Gefühle, die sie hat, sind erschöpfend. Wenn man die Kinder erlebt, spürt man keine Melancholie. Die Familie ist ja seit Jahren von Raif Badawi getrennt! Aber: Ich habe auch nicht erlebt, wie die Kinder traurig sind. Und diese Momente gibt es.
Was hat dieser Termin mit Dir als Journalist gemacht?
So ein Termin bewegt mich mehr als das Interview mit einem New Yorker Partyveranstalter, klar. Ich hatte einfach riesigen Respekt vor dieser Frau und riesige Wut auf Länder wie Deutschland, denen wirtschaftliche Beziehungen zu wichtig sind, um den Partner Saudi-Arabien vor den Kopf zu stoßen.
Wie können wir aus Deutschland helfen? Können wir das überhaupt?
Wie man helfen kann? An Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty spenden. Auf das Thema aufmerksam machen, zu Demonstrationen gehen. Wütend bleiben – oder werden! Das hashtag #freeraif nutzen. Die Online-Petition von Amnesty gegen Folter unterschreiben: https://www.stopfolter.de/
Wer Ensaf außerdem folgen möchte, sie berichtet bei Facebook, Instagram und Twitter über ihren Kampf um die Freiheit ihres Mannes.
Lieber Lukas, vielen lieben Dank für diese Einblicke.
Fotoquellen: 1. Foto: Hermsmeier/privat, 2. Foto: Screenshot Amnesty Aufruf, 3. Foto: Screenshot des Tagesspiegel-Artikels
3 comments
Mein heutiger Post
http://lemondedekitchi.blogspot.de/2015/08/notabene.html
Das ist der Link zu meinem Post. Ihr dürft aber auch so gerne vorbeischauen – vielleicht ist es ja auch mal interessant das Leben aus ner Oma -Perspektive zu erleben bzw. etwas über den Kökber Karneval „von innen“ zu erfahren. Das sind nur zwei meiner Schwerpunkte…
Bon week -end!
Astrid
Raif Badawi
Ihr Lieben, mit Freude und Interesse haben ich euren Post gelesen und werde den Beitrag verlinken in meinem morgigen Post zu Raif Badawi.
Ich selbst verfasse seit dem 13. Januar 2015 jeden Freitag einen Beitrag über die aktuelle Situation, in der sich Raif, inzwischen aber auch andere bedrohte Blogger & Netzaktivisten befinden. Ich weise meine Leser auch auf andere Aktionen hin, stelle Brieftexte an deutsche Politiker zur Verfügung u.a.
Ich bin froh, wenn ich andere deutschsprachige Blogger finde, die sich ebenfalls in diesem Fall engagieren, denn manchmal werde auch ich müde, wenn ich merke, dass das Interesse der Leser nachlässt.
GLG
Astrid
@astrid
Liebe Astrid, wie schön, dass Du uns gefunden hast! Schick uns doch bitte mal einen Link zu Deiner Seite!
Liebe Grüße,
Lisa